Hamburg. Fast nirgendwo ist die Außerparlamentarische Opposition stärker. 1969 beschert sie Schmidt eine Wahlschlacht. Und Bergedorf brennt.
Die Bundestagswahl am 28. September 1969 beschert Bergedorf seinen berühmtesten Politiker: Helmut Schmidt gewinnt den Wahlkreis mit 61,1 Prozent der Stimmen und wird Bergedorfs einflussreiches Sprachrohr in Bonn. Doch sein Sieg ist steinig, führt er doch über die beherzte Auseinandersetzung mit der Außerparlamentarischen Opposition, kurz APO. Deren junge Truppe um den 33-jährigen Volksschullehrer und späteren Museumsleiter Alfred Dreckmann, die in Bergedorf so engagiert ist, wie kaum an einem anderen Ort in der Bundesrepublik, beschert dem beliebten ehemaligen Hamburger Innensenator und Koordinator der Flut-Rettung von 1962 am 26. August 1969 sogar eine echte „Wahlschlacht in Bergedorf“.
Sie ist der Höhepunkt des Kräftemessens zwischen traditioneller Wahlkampf-Politik und aufbegehrender Jugend. Und sie wird von der Bergedorfer Zeitung erstaunlich objektiv begleitet – wie auch zuvor schon alle anderen lokalen Auswüchse dieses gesellschaftlichen Wandels der späten 60er-Jahre. Chefredakteur Karl Mührl gewährt den Stellungnahmen, Resolutionen und Aufrufen beider Seiten sehr viel Platz. Eine Entscheidung, die anderen wichtigen lokalen Themen wie der Eröffnung der S-Bahn von Bergedorf nach Aumühle oder dem Bau einer riesigen Freizeitanlage samt Schwimmbad in Lohbrügges Grünem Zentrum die Schau stiehlt. Sogar die Mondlandung am 21. Juli 1969 dominiert nur für gut eine Woche die Schlagzeilen in Bergedorf.
Chefredakteur Karl Mührl öffnet die Bergedorfer Zeitung auch für die APO
Mührls liberale Linie trägt seiner Zeitung manches vergiftete Lob konservativer Zeitungen wie der Welt oder auch der Hamburger Morgenpost ein, die am 20. August 1969 schreibt: Der große Bekanntheitsgrad der APO in Bergedorf und damit ihr hiesiger Erfolg liege an der Bergedorfer Zeitung, „denn nirgendwo sonst findet sie so ungebremste Bereitschaft für ausführliche Berichte und Stellungnahmen“. Auch innerhalb der bz-Redaktion hat die Offenheit nicht nur Freunde, etwa in Person des eher konservativen stellvertretenden Chefredakteurs Heinz-Joachim Blumental, der in seinen Beiträgen und Kommentaren häufig das von Helmut Schmidt geforderte harte Durchgreifen der Polizei gegen die linken „Radaumacher“ unterstützt.
Die APO, als sozialistisch-kommunistische Bewegung entstanden im Sog der Studentenproteste von 1968 und aus dem Schock über die Angriffe der Polizei gegen ihre Anführer wie Rudi Dutschke, konnte sich in Bergedorf so schnell einen Namen machen: Mehrfach war es ihr gelungen, mit wortgewaltigen, diskussionsfreudigen Auftritten Wahlkampfveranstaltungen der Politiker in und um Bergedorf zu sprengen. Neben denen von CDU/CSU und FDP auch solche der NPD, die zum Wahlkampf des Jahres 1969 noch überall Direktkandidaten aufstellte.
Helmut Schmidt provoziert die APO mit vielen seiner Statements
Entsprechend groß ist die Sorge der Bergedorfer SPD, als die APO auch für Helmut Schmidts Auftritt am 26. August 1969 einen heißen Abend ankündigte. Schließlich gilt der trotz aller Beliebtheit im linken Lager als rechts-konservativer Irrläufer in den Reihen der SPD. Zudem hatte sich Schmidt mit etlichen Provokationen in Richtung APO hervorgetan.
So nannte er sie eine Organisation, die „stets nur terrorisieren und zerstören“ wolle. Er rechne sogar mit bis zu 30 Toten im Bundestagswahlkampf, wenn diesen Tendenzen nicht Einhalt geboten werde. Und im Lichtwarkhaus legt Schmidt noch nach: „Ich kenne die APO Bergedorf. Ich habe sie lieber draußen als im Saal.“ Und mit Blick auf seine gerade abgeschlossene Moskau-Reise: „Wer die Courage hat, sich mit den Russen hart auseinanderzusetzen, wird auch den Mut haben, mit der Bergedorfer APO fertig zu werden.“
2000 Bergedorfer Wähler wollen Schmidt hören, doch dann kommt der Wasserwerfer
Tatsächlich stehen draußen vor dem Lichtwarkhaus aber nicht nur die kaum 50 APO-Aktivisten, sondern auch 2000 Bergedorfer. Sie alle sehen sich mehreren Hundertschaften Polizei und zwei Wasserwerfern gegenüber, die den bereits überfüllten Saal schützen. Das sollte die Ausgangslage sein für die „Wahlschlacht in Bergedorf“ vom 26. August 1969, wie unsere Zeitung die Nacht am nächsten Tag auf der Titelseite nennt. Unglücklich für Helmut Schmidt und seine SPD: Obwohl die Veranstaltung erst für 20 Uhr angekündigt war, hatten sie den Saal bereits zu 18.30 Uhr mit Genossen gefüllt, die teils aus ganz Hamburg mit Sonderbussen hergebracht worden waren. Als die Bergedorfer kommen, um ihren Bundestagskandidaten live zu erleben, gibt es bereits keinen Einlass mehr.
Der Ärger der Masse, der später in diversen Leserbriefen in der Bergedorfer Zeitung nachzulesen ist, verschafft sich in dieser Nacht auf unerwartete Weise Luft: Die Menschen schließen sich einer spontanen Demonstration der APO an, die zum Bergedorfer Rathaus führte und von dort gegen 20.30 Uhr wieder zurück zum Lichtwarkhaus, wo der Zug von Polizei und Wasserwerfern auf der Kreuzung Bergedorfer Straße/Vierlandenstraße aufgehalten wird.
Frustrierte Bergedorfer stellen einen Bus mit SPD-Parteigängern
Was dann passierte, beschreibt Arne Andersen in seinem Buch „Die Bergedorfer APO“: „Für viele Bergedorfer war es vermutlich die erste Demonstration in ihrem Leben. Doch die Polizeidevise für diesen Abend lautete, die APO ,abzuservieren‘. Sie ließ einen der Wasserwerfer auffahren.“ Während die Aktivisten diese Szenen schon aus Hamburg kannten und sich deshalb etwas zurückziehen, bleibt die große Masse stehen. „Viele Bergedorfer und Bergedorferinnen – etliche mit frisch gelegter Dauerwelle – schauten erstaunt auf dieses übermächtige Polizeifahrzeug. Das Erstaunen währte aber nur bis zum ersten Wasserstrahl.“
Die Auseinandersetzungen dauert bis nach Mitternacht und verlagert sich in die gesamte Bergedorfer Innenstadt. Zwischenzeitlich eskaliert die Lage in der Attacke auf einen Bus, der die angereisten SPD-Parteianhänger wieder zurück nach Hamburg bringen soll. Gestoppt auf der Kreuzung Bergedorfer Straße/Vierlandenstraße macht sich die Masse daran, den Bus umzuwerfen. „Erst als der verzweifelte Fahrer Vollgas gab und durch andauerndes Hupen erneut die Polizei alarmierte, konnte er sein Fahrzeug aus der Umklammerung befreien“, berichtet die Bergedorfer Zeitung am 27. August.
„Bergedorfer Wahlschlacht“ findet überregionales Presse-Echo – Schmidt entschuldigt sich
Die „Wahlschlacht“ findet auch überregional ein breites Presse-Echo, sodass sich Helmut Schmidt am 28. August mit Anzeigen unter anderem im Nachrichtenmagazin Spiegel und in unserer Zeitung entschuldigt: „Liebe Bergedorfer! Meine Versammlung am Dienstag im Lichtwarkhaus war überfüllt. Viele von Ihnen fanden keinen Einlass mehr. Auch mich hat Ihr großes Interesse überrascht. Es tut mir leid.“ So kurz vor Veranstaltungsbeginn habe es keine Möglichkeit mehr gegeben, die Zahl der Zuschauer zu erweitern.
Schmidt reagiert schnell und lädt schon 13 Tage nach dem Desaster zur „Diskussion unter freiem Himmel“ auf die Schlosswiese. Gut 3000 Menschen kommen, neben seiner Rede werden etliche Fragen zugelassen, auch zwei von Alfred Dreckmann. Doch der geschickte Redner Schmidt bietet dem APO-Aktivisten keine Angriffsfläche.
1969 ist die APO in Bergedorf das Maß aller Dinge, wenn es politische Provokation geht
Ohnehin markiert dieses Wahlkampf-Finale schon den Niedergang der Bergedorfer APO, die im Jahr 1969 in Bergedorf zum Symbol und auch zur Projektionsfläche der angeblich aufmüpfigen Jugend avancierte. Die politische Interessengruppe, mit ihren linksliberalen bis kommunistischen Aktivisten, war nie ein fester Zusammenschluss oder gar eine Partei geworden. Sie löst sich 1970 auf, „weil ihr aktionistisches Politikverständnis an einem Punkt angelangt war, an dem es nicht mehr weiterging“, schreibt Arne Andersen mit Blick auf eine Gesellschaft, die tatsächlich freier und weniger obrigkeitsstaatlicher geworden war.
1969 allerdings ist die APO in Bergedorfs Öffentlichkeit das Maß aller Dinge, wenn es um politische Provokation ging. Natürlich praktizieren ihre Mitglieder an der Kampchaussee, heute Kurt-A.-Körber-Chaussee, freie Liebe in ihrer wilden WG – jedenfalls wenn man die Bergedorfer fragt. Die „Kommune Kampchaussee“ war schließlich ein Abbild der legendären Berliner „Kommune 1“ um Rainer Langhans und Uschi Obermaier.
„Erfüllte Sexualität ist die Voraussetzung einer erfolgreichen Revolution“
Tatsächlich stand die APO wie die ganze 68er-Stundenbewegung für das Ziel einer anderen, einer gerechteren Gesellschaft, bei der eben auch das Private politisch ist. „Die erfüllte Sexualität war danach die Voraussetzung einer erfolgreichen Revolution und zentrale Zielsetzung des Sozialismus“, schreibt Arne Andersen.
Eng verbunden fühlt sich die APO mit den aufkeimenden Schülerprotesten gegen die obrigkeitsstaatlichen Unterrichtsformen. So landet sie mit mehreren sogenannten Malaktionen gleich nach den Weihnachtsferien im Januar 1969 große Aufmerksamkeit: In der Nacht auf Montag, 13. Januar, wird das Luisen-Gymnasium mit roter Farbe auf der Fassade in „Rosa-Luxemburg-Schule“ und das Hansa-Gymnasium in „Karl-Liebknecht-Schule“ umgetauft. Es war der 50. Jahrestag der Ermordung dieser beiden deutschen Kommunistenführer.
Hansa-Elternrat sieht Schmiererei als „terroristischen Einfluss auf den Schulbetrieb“
Natürlich wird alles umgehend wieder entfernt, aber der Ärger ist groß. Und mancher der so Provozierten traut sich aus der Deckung. Harald Dürkop, Elternratsvorsitzender des Hansa-Gymnasiums, spricht am 16. Januar in unserer Zeitung davon, dass hier der Versuch unternommen wurde, von außen „mit terroristischen Mitteln Einfluss auf den Schulbetrieb“ zu nehmen.
Derweil sieht sich die APO auch direkten Angriffen des Staates ausgesetzt, wird ihr doch der Mietvertrag für ihren Treffpunkt in der ehemaligen Schule nahe der Schiefen Brücke in Neuengamme zum 31. März 1969 gekündigt. Sie organisiert einen Protestzug vor das Bergedorfer Rathaus, in dessen Vorfeld die SPD-Zentrale an der Vierlandenstraße beschmiert und ins damalige Waffengeschäft der Firma Glunz am Mohnhof eingebrochen wurde. „Sieben Kleinkalibergewehre und einige 100 Schuss Munition“ wurden geklaut, vermeldet unsere Zeitung.
Einbruch und Waffenklau bei Glunz stellt APO in kriminelles Licht
Beides stellt die APO in ein kriminelles Licht, obwohl ihr keine der Taten nachgewiesen werden kann und sie sich ausdrücklich von Einbrüchen oder gar einer Bewaffnung distanziert. Während an den Gymnasien mittlerweile Schülerstreiks gegen die Unterrichtsmethoden ausbrechen und weitere Sprüche auf Fassaden verewigt werden, bekommt die APO einen Hinweis, dass in der Druckerei der Bergedorfer Zeitung das Parteiblatt NPD-Kurier gedruckt wird.
Schnell steht der Entschluss fest, der Zeitung einen Besuch abzustatten. „Die APO kam um 21.30 Uhr“ schreiben wir am 1. April 1969 über das „Go-In“ der etwa 50 Aktivisten am Abend zuvor. Chefredakteur Karl Mührl lässt sie nicht etwa hinauswerfen, sondern stellte sich in seinem Büro der rund zweistündigen Diskussion. Zu den Verdächtigungen im Waffenklau bei Glunz und dem NPD-Druckauftrag schreibt er am 5. April: „Die Redaktion hat (und wird) den Pfad der Unabhängigkeit und Überparteilichkeit nicht verlassen. Wobei auch sie in Anspruch nimmt, sich einmal irren und sogar einmal ,schwach‘ werden zu dürfen.“
Ehemaliger Hutsalon an der August-Bebel-Straße neues Domizil der Bergedorfer APO
Gute Nachrichten gibt es auch in Sachen neuer Unterkunft: Nach nur drei Wochen ohne Bleibe zieht die APO am 21. April 1969 in einen ehemaligen Hutsalon an der August-Bebel-Straße 27 am Rathauspark. Die zentrale Lage in Bergedorf wird zu einem Anziehungspunkt für politisch engagierte Jugendliche. Doch das Image der Gewalttäter bleibt.
Als in der Nacht zum 16. Juni 1969 ein Feuer die Aula des Hansa-Gymnasiums samt darunterliegender Sporthalle zerstörte, fällt der Verdacht sofort auf die APO. Schnell war klar, dass es sich um Brandstiftung mit einem Molotow-Cocktail handelt. Und auch der Täter wird schon am folgenden Tag gefasst: Der 29-jährige Manfred Hanner, ehemaliger Hansa-Schüler, der die Schule wegen schlechter Noten ohne Abitur hatte verlassen müssen, ist überführt worden.
Zwei Monate nach dem Hansa-Gymnasium brennt auch die Holzhandlung Behr
Doch weil er in der „Kommune Kampchaussee“ aufgetaucht war, gilt die APO für die überregionale Presse mindestens als mitschuldig. In der bz stellte Mitglied Alexander Piltz an 18. Juni klar: „Leute, die sich dieser Mittel bedienen, würden für uns nicht mehr zu unserer Bewegung gehören.“
Noch schlimmer wird es zwei Monate später. In der Nacht zum 16. August 1969 brennt die Holzhandlung Behr, die damals auf dem Areal des heutigen Einkaufszentrums CCB lag. „Feuerball über Bergedorf“ titelt unsere Zeitung über ein Inferno, dessen Feuerschein in jener Nacht bis ins Hamburger Zentrum und nach Geesthacht zu sehen war: „Nur durch den massiven Einsatz aller Hamburger Feuerwehren, die neben den Bergedorfern und deren freiwilligen Helfern anrückten, konnte eine Katastrophe vermieden werden.“
Bergedorfs Innenstadt entgeht nur mit viel Glück einem Flammeninferno
Gemeint war die Zerstörung des gesamten Bergedorfer Zentrums. Denn seine enge Bebauung reichte von Osten direkt bis an das Gelände der Holzhandlung. Und gleich neben ihr stand hier der Speicher der Farbenhandlung Zeyn: „Hier liegen jede Menge Öle und Terpentin. Wenn die hochgehen, dann gute Nacht“, sagt Inhaber Hans-Helmuth Klemm unserem Reporter.
Doch das Unglaubliche gelingt: Die um 1.30 Uhr anrückenden Feuerwehrmänner retten den Zeyn-Speicher und ein leichter Ostwind sorgte dafür, dass die Flammen nur in Richtung Bergedorfer Hafen und B5 schlagen, also keine neue Nahrung finden. Die Polizei hat derweil mit Hunderten Schaulustigen zu kämpfen: „Der Feuerball lockte sogar Menschen aus Wandsbek und Umgebung an“, schreibt unsere Zeitung über die Welle der anreisenden Schaulustigen. „Trotz der frühen Stunde waren in knapp 30 Minuten sämtliche Parkflächen iun der Bergedorfer Innenstadt von Neugierigen blockiert.“
Polizei verhaftet die APO-Aktivisten Alexander Piltz und Walter Simon
Bereits wenige Stunden später rückt die Polizei mit einem Großaufgebot in der „Kommune Kampchaussee“ an, um zwei Verdächtige zu verhaften: Die 22-jährigen APO-Aktivisten Alexander Piltz und Walter Simon kommen ins Untersuchungsgefängnis. Eine Frau will die beiden in der Nähe des Tatorts gesehen haben.
Sofort wird die Presse mit Fotos und den vollständigen Namen der beiden versorgt. Die Bild-Zeitung titelt: „Zwei APO-Männer verhaftet“. Auch die Bergedorfer Zeitung meldet: „Die APO-Männer Piltz und Simon unter schwerem Verdacht“. Doch wird bereits Alfred Dreckmann zitiert, der mit beiden bis nach Mitternacht im APO-Stammlokal Bremer Hof gesessen und sie weit nach Mitternacht „angeheitert bis volltrunken“ an der Kampchaussee gesehen habe.
Echte Brandstifter bleiben noch drei Wochen auf freiem Fuß – und planen neues Feuer
Tatsächlich zeigt eine Gegenüberstellung, bei der Piltz und Simon der Zeugin in Handschellen am Brandort vorgeführt werden, dass sie sich geirrt hat. Beide kommen umgehend auf freien Fuß. Erst fast drei Wochen später kann die Polizei die beiden wirklichen Täter fassen: Es sind die 21-jährigen Bergedorfer Norbert Carstens und Wulf-Dieter Klemm, die von ihrer Freundin und Zeugin angezeigt werden. Sie hatte aus Angst und wegen der guten Beziehung zu ihnen lange geschwiegen.
Der Fall, schließlich aufgedeckt mit maßgeblicher Unterstützung des Magazins Stern, findet ein bundesweites Echo. Auch weil die Zeugin angibt, dass die beiden Täter bereits weitere Brandstiftungen geplant hatten, um auch die gezielt der APO in die Schuhe zu schieben. Vielen wirkt es, als ob auch die Ermittler mit den APO-Aktivisten als Täter im Fall der Holzhandlung Behr zufrieden gewesen wären, denn „bei Anwendung normaler kriminalistischer Sorgfalt“ sei es „nicht schwer gewesen“, die wahren Täter zu ermitteln, schreibt der Stern am 21. September 1969.
„War das fair?“ – Scharfe Kritik von bz-Chefredakteur an Polizei und Statsanwaltschaft
Auch bz-Chefredakteur Karl Mührl kritisiert den Umgang von Polizei und Staatsanwaltschaft scharf. Unter der Überschrift „War das fair?“ schreibt er nach der Freilassung von Piltz und Simon am 19. August 1969: „Bisher galt es als Gesetz der Fairness, die Namen der Verhafteten erst dann für die Öffentlichkeit preiszugeben, wenn sich der Verdacht der Brandstiftung weiter verdichtete und Handfestes gegen die Betroffenen ermittelt war. Warum wurde dieses ungeschriebene Gesetz bei Piltz und Simon nicht beachtet?“
Es scheine so zu sein, dass „die APO zu einem gefürchteten Schreckgespenst geworden ist, mit dem man nicht mehr recht umzugehen weiß und gegen das Mittel angewandt werden, die mit demokratischen, rechtsstaatlichen Formen kaum zu vereinbaren sind. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn die APO sich wehrt und behauptet, dass die demokratische Opposition mit Nazimethoden zerschlagen werden und dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen solle, dass alles, was der APO angehöre, kriminell sei.“
Eigentümer der Holzhandlung Behr plant sofort Umzug an Curslacker Neuen Deich
Tatsächlich wird die Bergedorfer APO das Image der kriminellen Vereinigung nicht mehr los. Auch wenn die Brandstifter vom Hansa-Gymnasium und von der Holzhandlung Behr Anfang Mai 1970 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden. Im Fall der Holzhandlung geht die Eigentümerfamilie dagegen erstaunlich schnell zur Tagesordnung über: Schon drei Tage nach dem Feuer verkündet Junior-Chef Klaus Derndinger in der Bergedorfer Zeitung, man werde das Lager nur notdürftig wieder aufbauen. Es soll einen Neubau am Curslacker Neuen Deich geben, wo die Firma bereits 1928 ein 20.000 Quadratmeter großes Grundstück erworben hatte.
Was auf dem 8000 Quadratmeter großen alten Gelände werden könnte, schlägt unsere Zeitung dann am Wochenende nach dem Brand auf einer kompletten Sonderseite vor: „Abgebrannt ist abgebrannt, kommt jetzt ein Parkhaus?“ lautet die Überschrift. Die Forderung: Hamburg soll das Areal aufkaufen, um hier „Bergedorfs erstes Parkhochhaus“ zu erreichten, das dann sowohl nah an der Innenstadt, als auch am Bahnhof liege und für die Nutzer über die B5 leicht zu erreichen sei.
Ende Mai 1969 wird die S-Bahn von Bergedorf nach Aumühle eingeweiht
Der Bergedorfer Bahnhof erhält am 30. Mai 1969 eine neue Attraktion: Für die S-Bahn ist hier jetzt nicht mehr Endstation. Sie rollt jetzt weiter bis nach Aumühle. Mit Volksfesten, Reden und Musik an allen Stationen wurde der erste Zug am Mittag überall empfangen. „Ein wichtiges Kapitel in der hiesigen Eisenbahngeschichte“, schreibt die Bergedorfer Zeitung am 31. Mai. Bereits am 7. Februar hatte es in Sache U-Bahn indes eine Hiobsbotschaft gegeben: Deren Trasse, die von Billstedt über das ab 1969 entstehende Mümmelmannsberg und entlang des Reinbeker Redders bis nach Lohbrügge-Nord führen sollte, wurde aufgegeben.
Trotz fehlendem U-Bahn-Anschluss winkt Bergdorfs größtem Neubau-Stadtteil eine echte Attraktion: Für 2,5 Millionen Euro soll das Grüne Zentrum im Herzen von Lohbrügge-Nord zu einem Freizeitpark unter freiem Himmel umgebaut werden. Unterstützt von Senat und Bezirksamt planen die Initiatoren Schwimmbecken für Freizeit und Wettkampfsportler, darunter auch eines mit zehn 50-Meter-Bahnen. Die Wassertemperatur: 22 Grad.
Freizeitpark für 45.000 Menschen in Lohbrügges Grünem Zentrum
Wie die Bergedorfer Zeitung am 14. März 1969 ausführlich berichtet, werde für einen Einzugsbereich von 45.000 Menschen geplant, weshalb auch ein 2000 Quadratmeter großer Parkplatz erforderlich sei, der auch als Wochenmarkt genutzt werden könne. Neben den Schwimmanlagen sind Tennisplätze samt Tennishalle vorgesehen, zudem Liegewiesen mit Arealen für Federball, Boccia und Tischtennis. Hinzu kommt eine gut 50 Meter lange und etwa 25 Meter breite Eisbahn, die im Sommer auch als Rollschuhbahn genutzt werden kann. Alles soll noch um Geschäfte, Cafés sowie ein Restaurant ergänzt werden und sich gut die hügelige Fläche einfügen.
Dass es am Ende nicht dazu kommen sollte, lag vermutlich an der gescheiterten Finanzierung. Allerdings regt sich von Anfang an auch Widerstand unter den Bewohnern von Lohbrügge-Nord. Am 8. März 1969 berichtet die Bergedorfer Zeitung über die Unterschriftenaktion „Rettet das Grüne Zentrum“. Die Initiatoren wollen verhindern, dass ihre Nachbarschaft zum Magneten für Tagestouristen wird. Man wolle hier lieber „Rehe und Hasen“ sehen, als dass Baufäller und Planierraupen anrücken.
Vom Bahnhof bis zum Markt: „Europas modernstes Einkaufszentrum“ für Lohbrügge
Derweil rüstet sich auch das Bergedorf-Lohbrügger Zentrum für neue Höhenflüge. Das Sachsentor wird vom Mohnhof bis zum Kaiser-Wilhelm-Platz zur Fußgängerzone und Hertie verdoppelt sein Kaufhaus auf gut 5000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Als das heutige große Ex-Karstadt am 7. November 1969 eröffnet wird, feiert plötzlich auch das Textilkaufhaus Penndorf: Wenige Meter östlich von Hertie am Sachsentor gelegen, ist es jetzt 50 Jahre Teil der Bergedorfer City.
Doch die Visionen der Stadtplaner gehen noch weit darüber hinaus: „Modernstes Einkaufszentrum Europas entsteht ab 1970 im alten Lohbrügge“, lautet die Überschrift auf der Titelseite unserer Zeitung am 12. November 1969. Vom Bahnhof bis hinauf zum Lohbrügger Markt soll sich dort Geschäft an Geschäft reihen in einem riesigen Komplex „mit unterirdischer Lieferstraße“. Schließlich sei sicher: „Sie wollen nach Lohbrügge: Karstadt, C&A, Dyckhoff“ heißt es bereits am 14. Mai in unserer Zeitung. Alles wird den Lesern als „planvolle Sanierung“ vorgestellt, die sich bis nach Bergedorf zieht – einschließlich der Bebauung der abgebrannten Holzhandlung Behr.
Bezirksamtsleiter Lindemann weiht in Bergedorf-West das Einkaufszentrum ein
Gebaut wird längst an Bergedorf-West, wo Bezirksamtsleiter Wilhelm Lindemann am 13. September 1969 das 5,2 Millionen Mark teure Einkaufszentrum eröffnet. Am 29. Oktober ist auch das 24 Meter hohe Kunstwerk des Hamburger Malers und Grafikers Andreas Nowack fertig, das bis heute die südliche Fassade des Hochhauses an der Ecke Ladenberger Furtweg/Friedrich-Frank-Bogen ziert.
Nur beim S-Bahnhof gibt es Verzögerungen, hatte die Bundesbahn die mit Fußgängertunnel 1,8 Millionen Mark teure doch eigentlich gar nicht bauen wollen: Bloß 2000 Wohnungen mit rund 6000 Menschen seien zu wenig für einen S-Bahnhalt. „Ist unter der Hand schon eine Ausweitung des Wohngebiets über die S-Bahngleise hinaus geplant?“, blickt die Bergedorfer Zeitung am 24. Mai 1969 bereits auf das heutige Neuallermöhe.
Tauziehen um Namen für S-Bahnstation: „Bergedorf-West“ – oder lieber „Nettelnburg“?
Für Diskussionen sorgt der Name der neuen Station, die nach einigen Bauverzögerungen erst im März 1970 fertig wird: Soll sie Ihren Arbeitstitel „Oberer Landweg“ behalten? Als weitere Namen werden natürlich „Bergedorf-West“, „Ladenbek“ wegen des nahen Flüsschens und „Nettelnburg“ wegen der alten Flurbezeichnung ins Rennen geschickt. Eine Umfrage unserer Zeitung ergibt am 15. Februar eine klare Mehrheit von 63,1 Prozent der Leser für „Bergedorf-West“.
Doch die Bezirksversammlung votiert am 26. Juni 1969 „nach längerer und lebhafter Debatte“, wie unsere Zeitung tags darauf schreibt, für „Nettelnburg“. Das Bezirksamt hatte dringend zu diesem Namen geraten, weil die Bundesbahn bei den Fahrgästen eine hohe Verwechslungsgefahr mit den benachbarten Haltestellen „Bergedorf“ und „Mittlerer Landweg“ befürchtet, sollten „Bergedorf-West“ oder „Oberer Landweg“ gewählt werden.
Himmelsstürmer im Juli: Raumschiff Apollo 11 startet zum Mond
Viel irdisches Klein-Klein, das angesichts des großen Himmelsschauspiels im Sommer 1969 natürlich verblasst: „Start in ein neues Zeitalter“ titelt die Bergedorfer Zeitung am 17. Juli, als sich die Astronauten Neil Armstrong, Edwin Aldrin und Michael Collins mit der Apollo 11 zum Mond machten. Tags war das Trio um 14.32 Uhr von Kap Kennedy gestartet. Neben der Titelseite „Alles klar zum Mondflug“ gibt es da bereits die Sonderseite „Flugplan für Mondmänner“, auf der alle Episoden des Flugplans minutengenau aufgelistet werden - und natürlich auch die Sondersendungen von ARD und ZDF über alle neun Tage bis zum 24. Juli 1969.
Zum „Spaziergang auf dem Mond“ ziert unsere Titelseite am 21. Juli sogar ein Foto von der Szene auf dem Erdtrabanten. Und es werden ebenso bewegende wie exakte Worte gefunden: „Zum ersten Male hat ein Mensch einen fremden Himmelskörper betreten. Gut 6,5 Stunden nach dem Aufsetzen der amerikanischen Mondlandefähre ,Eagle‘ (Adler) im ,Meer der Ruhe‘ kletterte der 38-jährige Amerikaner Neil Armstrong über neun Leitersprossen hinunter und setzte seinen linken Fuß behutsam auf die Oberfläche des Mondes. Es war der 21. Juli 1969 um 3.56 Uhr und 20 Sekunden mitteleuropäischer Zeit. Dem Kommandanten des Raumschiffes Apollo 11 folgte 13 Minuten später der 39-jährige Pilot der Mondfähre, Edward Aldin, auf den Boden des Erdtrabanten.“
Bergedorfs Griff nach den Sternen: Europäische Südsternwarte ESO hat Sitz im Iduna-Haus
In den folgenden Tagen wird der Rückflug ebenso akribisch begleitet, bis es nach der Landung am 25. Juli in der Bergedorfer Zeitung heißt: „Musterlandung von Apollo 11 – Glückwünsche aus aller Welt“ und: „Nächster Mondflug: Am 14. November wird Apollo 12 die lange Reise zum Erdtrabanten antreten!“
Derweil greift 1969 auch Bergedorf zu den Sternen: Nicht ohne Stolz erzählt unsere Zeitung am 26. November die Geschichte der Europäischen Südsternwarte, kurz ESO, deren Bau auf dem rund 2000 Meter hohen Bergmassiv „La Silla“ in den chilenischen Anden immer mehr Formen annimmt: „Chef der Organisation, deren Verwaltungszentrale sich im Induna-Haus an der Bergedorfer Straße befindet, ist Professor Dr. Otto Heckmann, der bis zu dieser Berufung vor einigen Jahren Leiter der Hamburger Sternwarte in Bergedorf war.“
„Sieg Heil“-Sprechchöre der APO zur Begrüßung von Strauß und Kiesinger
1975 siedelt die ESO von Bergedorf nach Garching bei München über, weil Bayerns Ministerpräsident Franz-Josef Strauß im Vergleich zu Hamburg deutlich mehr Fördermittel für die Astrophysiker in Aussicht stellt. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern kann Bergedorfs APO dem CSU-Chef anno 1969 indes nichts Gutes abgewinnen. Im Gegenteil: Er und Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger werden bei einer Wahlkampfveranstaltung in Hamburg „mit Pfeifkonzerten und ,Sieg Heil“-Sprechchören begrüßt“, schreibt unsere Zeitung am 18. September.
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Wenig begeistert war die APO allerdings auch vom riesigen Erfolg des Direktkandidaten Helmut Schmidt in Bergedorf. 91.624 Wähler entscheiden sich hier für ihn, das sind fast 16.000 mehr als für seinen Vorgänger bei der Wahl von 1965. Das Traumergebnis von 61,1 Prozent kommentierte Schmidt in unserer Zeitung am Montag nach der Wahl mit den Worten: „Ich bin ehrlich überrascht und danke allen Bergedorfer.“
Zur Bergedorfer Zeitung entwickelte er einen engen Draht, schrieb mehrfach Kolumnen aus dem Bonner Politikbetrieb. Die APO, die statt der SPD gern linke Parteien weit vorn gesehen hätte, kommentiert das Ergebnis mit einem ebenso frustrierten, wie unveröffentlichtem Kommentar: „Schmidt als rechter Sozialdemokrat, der öfter als Kuhlenkampff im Fernsehen, das heißt im Wohnzimmer des Wählers erscheint, ist adäquat für die latent-faschistische Wählerschaft, wenn es um Ruhe und Ordnung geht.“