Das Klima in der Umweltpartei ist gestört. Kopfschütteln an der Spitze und Hamburgs Senatorin Anja Hajduk zwischen den Fronten.
"Kohle von Beust": So bissig hatten Hamburgs Grüne vor der Wahl die Pläne für das Kraftwerk Moorburg bekämpft. Und auch jetzt, als Teil der ersten schwarz-grünen Landesregierung in Deutschland, ringen sie erbittert um jede Möglichkeit, den neuen Kohlemeiler des Vattenfall-Konzern noch zu verhindern. Rund 600 Kilometer weiter südlich indes bahnen Parteikollegen etwas an, das die Hamburger GAL als Verrat aus den eigenen Reihen empfinden muss: Die Grünen im baden-württembergischen Tübingen wenden sich nicht nur nicht gegen Kohlekraftwerke, sie wollen sich sogar am Bau eines solchen beteiligen. Noch brisanter: Es soll nicht etwa vor ihrer eigenen Haustür stehen, sondern ausgerechnet vor den Toren Hamburgs - in Brunsbüttel. Und es soll mit 1800 Megawatt Leistung noch größer ausfallen als Moorburg (1640 Megawatt).
Der, der dieses Projekt betreibt, ist kein geringerer als Boris Palmer (36) - ein Politiker, der als "grüne Nachwuchshoffnung" gilt und sogar schon als Nachfolger des scheidenden Grünen-Bundesvorsitzenden Reinhard Bütikofer im Gespräch war. In Tübingen ist er Oberbürgermeister und als solcher seit 2006 auch Aufsichtsratsvorsitzender der Tübinger Stadtwerke. Diese wiederum sind an der Südweststrom Kraftwerks GmbH beteiligt - der Betreiberin des geplanten Kohlemeilers Brunsbüttel.
Vorbei die Zeiten grüner Einigkeit in der Energiepolitik wie im Kampf gegen Atomkraftwerke. Was danach kommt, ist umstritten. Gilt die reine Öko-Lehre, also: nur noch regenerative Energien? Oder soll man hier und da, aus welchen Gründen auch immer, Sündenfälle zulassen - also Gas- oder gar Kohlekraft?
Boris Palmer, dessen Vater Helmut sich in den 70er-Jahren von Baden-Württemberg aus als Kämpfer gegen staatliche Bevormundung und Behördenwillkür bundesweit einen Namen machte (der "Remstal-Rebell"), sieht "keinen Widerspruch" in der Beteiligung am Kraftwerk und seiner grünen Parteilinie. Er müsse abwägen zwischen dem Problem CO2-Emissionen aus Großkraftwerken und der Selbstständigkeit und wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Tübinger Stadtwerke, einem Unternehmen, das nicht nur die Tübinger mit Energie versorgen, sondern auch Geld verdienen muss. "Natürlich möchte ich, dass wir die erneuerbaren Energien endlich so fördern, dass es möglich ist, ohne Kohle-, Gas- und Atomkraftwerke auszukommen. Da bin ich völlig einig mit meiner Partei", sagt Palmer dem Abendblatt. "Als Aufsichtsratsvorsitzender der Stadtwerke möchte ich aber auch, dass wir rentable Investitionen tätigen und nicht in die roten Zahlen geraten." Für die Stadtwerke sei es "leider überlebenswichtig", in den Besitz von eigenen Erzeugungskapazitäten zu kommen, um von den "Großen nicht völlig aus dem Markt gedrängt zu werden". Zudem sei die Entscheidung, sich an der Südweststrom Kraftwerksgesellschaft zu beteiligen, vor drei Jahren von seiner Amtsvorgängerin gemeinsam mit allen Fraktionen des Tübinger Rates beschlossen worden. "Ich habe eine Situation vorgefunden, in der schon drei Jahre Vorarbeiten geleistet und in der Kapital in die Gesellschaft eingezahlt wurde, das man nicht zurückbekommt", so Palmer. Dadurch sei eine "gewisse Zwangssituation" entstanden.
Grundsätzlich ist das richtig. Allerdings war die Situation vor drei Jahren auch eine andere. Damals, als der Stadtrat über die Beteiligung abstimmte, stand nicht etwa der Bau eines Kohlekraftwerks in Brunsbüttel zur Debatte, sondern der eines Gaskraftwerks in Wertheim am Rhein. Das wurde aber in letzter Minute von einer Bürgerinitiative verhindert. Unterstützt wurde diese ausgerechnet von einem Parteikollegen Palmers - dem Sprecher für Energie- und Technologiepolitik der grünen Bundestagsfraktion, Hans-Josef Fell.
Seitdem herrscht Eiszeit zwischen Palmer und Fell. Der sieht das gelassen. Es gebe den Streit zwischen ihm und Palmer, weil Palmer "auf Kohlekraft" setze und damit gegen den Klimaschutz, so Fell zum Abendblatt. Mit seinen Investitionen in die Kohlekraft sei Palmer aber "völlig isoliert in der Partei". Fell kündigte an, er werde weiterhin jede Bürgerinitiative unterstützen, die sich gegen Kohlekraftwerke und gegen Gaskraftwerke einsetzt.
Mit dieser Ankündigung könnte er gleich den nächsten Streit innerhalb der Partei anzetteln - mit der Hamburger Umweltsenatorin Anja Hajduk (GAL). Will sie doch mit ihren Parteikollegen in Hamburg statt des Kohlekraftwerks ein Gaskraftwerk durchsetzen. Auch für diese Idee findet Fell deutliche Worte: "Ich kann über den Wunsch, Kohle durch Gas ersetzen zu wollen, nur mit dem Kopf schütteln."
Anja Hajduk selbst hält sich - wie derzeit überhaupt, wenn es um das Kraftwerk Moorburg geht - dezent zurück. Auch zu den Absichten von Boris Palmer äußert sich Hajduk nur sehr wage. "Fakt ist: Boris Palmer fordert eine Energiewende ein. Das ist gemeinsamer Konsens zwischen Boris Palmer und mir. Da lässt sich auch kein Konflikt konstruieren. Er hat aber darauf hingewiesen, dass er im Zuge der Bewahrung der Unabhängigkeit von den Tübinger Stadtwerken in der Verantwortung stehe, vorher getroffene langfristig unternehmerische Investitionsentscheidungen konstruktiv zu begleiten. Ich nehme diese Einschätzung zur Kenntnis - nicht mehr und nicht weniger", ließ Hajduk mitteilen.
Dass es einen anderen Weg bei den Grünen gibt, zeigt Palmers Partei- und Amtskollege, der Konstanzer Oberbürgermeister Horst Frank. Auch Konstanz ist an der Südweststrom beteiligt. Und obwohl auch Horst Frank Chef des Aufsichtsrats seiner Stadtwerke ist, hat für ihn die grüne Parteilinie Vorrang: Frank setzt derzeit alles daran, aus der Südweststrom auszusteigen und damit die Beteiligung am Bau des Brunsbütteler Kohlekraftwerks zu stoppen. "Konstanz ist Mitglied im Klimabündnis der europäischen Städte", betont Franks Sprecher Walter Rügert. Die Stadt könne nicht auf der einen Seite Beschlüsse fassen, um den Kohlendioxid-Ausstoß zu senken und ihn auf der anderen Seite durch Beteiligung an einem Kohlekraftwerk erhöhen. Bis zum 26. Juni soll der Konstanzer Stadtrat eine Entscheidung treffen.
Schützenhilfe bekommen die Konstanzer Grünen vom stellvertretenden Fraktionschef im Bundestag und ehemaligen Umweltminister Jürgen Trittin. "Horst Frank hat sich vernünftig verhalten", sagt er. Frank habe erkannt, dass das Klimaziel der Bundesregierung, bis 2020 mindestens 40 Prozent CO2 einzusparen, nicht zu erreichen sei, wenn man in neue Kohlekraftwerke investiere. Dass derzeit in Deutschland 25 neue Kohlekraftwerke geplant sind, sei eine "direkte Folge der Ausgestaltung des Immissionshandels" durch die Große Koalition. Trittins Vorwurf: "Mit dem Verschenken von CO2-Zertifikaten zu einem speziellen Benchmark für neue Kohlekraftwerke und das Wegfallen des Schließungsdrucks für alte Kraftwerke haben Merkel und Gabriel damit begonnen, Kohle zu subventionieren."
Selbst wenn die Tübinger noch aus dem Kraftwerksprojekt in Brunsbüttel aussteigen wollten, hätten sie damit ein echtes Problem. Denn die Geschäftsführerin der Südweststrom, Bettina Morlok, hat vor Ort bereits im Jahr 2006 Fakten geschaffen. Damals schloss sie einen Vertrag mit der Hafengesellschaft über die Anlieferung der Kohle über die Elbe. Wie Morlok dem Abendblatt bestätigte, müssten die Stadtwerke Tübingen selbst dann die vereinbarten Summen an die Hafengesellschaft zahlen, wenn das Kraftwerk nicht gebaut werden würde.
Und so bemüht Boris Palmer das gleiche Argument, mit dem auch die großen Stromkonzerne die verbreitete Furcht vor hohen Kohlendioxid-Emissionen zu zerstreuen versuchen: Sobald es technisch und wirtschaftlich möglich sei, werde die sogenannte CCS-Technik nachgerüstet. Mit deren Hilfe soll das Kohlendioxid aus der Abluft des Kraftwerks herausgefiltert und tief in der Erde gelagert werden. An einer Pilotanlage arbeitet Vattenfall derzeit in Schwarze Pumpe (Brandenburg). Nach Konzernangaben soll die Technik spätestens 2015 marktreif sein.
Als wäre diese Technik das sprichwörtliche "Ei des Kolumbus", schaut die ganze Energiebranche auf die Versuche. Ob die CCS-Technik tatsächlich funktionieren wird, weiß allerdings niemand. Eine neue Studie im Auftrag des Bundestages (siehe Text unten auf dieser Seite) sieht die flächendeckende Einführung eher skeptisch.