Siegen. Die Beratungsstelle an der DRK-Kinderklinik Siegen wurde 2022 öfter wegen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kontaktiert. Die Zahlen erschüttern

Der Beratungsbedarf, weil Kinder und Jugendliche Opfer von Gewalt wurden, ist 2022 weiter gestiegen. Das geht aus dem Bericht der Ärztlichen Beratungsstelle (ÄB) an der DRK-Kinderklinik in Siegen hervor. Das Jahr „war aus Sicht von den beiden hauptamtlichen Fachkräften der Beratungsstellen, Antje Maaß-Quast und Marina Beer, erneut von hohen Fallzahlen geprägt“, wie einer Mitteilung der Kinderklinik zu entnehmen. Das Corona-Jahr 2021 sei noch übertroffen worden.

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Die Gründe für den Anstieg seien „vielfältig, die Pandemie hat sicherlich ebenfalls dazu beigetragen, dass in den Familien Konflikte und Belastungen zunahmen“, heißt es weiter. Marina Beer, Therapeutin im Team der Beratungsstelle, ergänzt: „Wenn Eltern an ihre Grenzen kommen, die elterliche Hilflosigkeit und die Auffälligkeiten des Kindes häufig aufeinandertreffen, dann nimmt auch die körperliche und/oder seelische Gewalt zu, was nicht selten eskaliert bis hin zu schwerwiegenden Verletzungen.“

Siegen: Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – mehr Familien bekommen Beratung

262 gemeldete Familien im Jahr 2022 bedeuten gegenüber 2021 eine Steigerung um 10. Darüber hinaus haben 54 professionelle Helferinnen und Helfer das Angebot der „kollegialen Beratung“ in Anspruch genommen. Zusammen ergibt dies 309 Fallberatungen in 2022. „Ein umfassendes Netzwerk und eine intensive Zusammenarbeit zwischen der ÄB und den weiteren Hilfseinrichtungen ist die wichtige Basis für den Erfolg der Beratungsstelle“, sagt Klinikgeschäftsführer Carsten Jochum. Dies sei „nur möglich dank guter und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Kinderbetreuung, Schulen, familienentlastender Dienste, Jugendämter, der Kriminalpolizei des Kreises sowie der Kinderschutzgruppe der DRK-Kinderklinik“, betonen die Fachkräfte der Beratungsstelle.

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41 Prozent der Familien mit Beratungsbedarf kamen aus dem Kreis Siegen-Wittgenstein (2021: 36 %), 29 % aus der Stadt Siegen (2021: 35 %). Der Anteil der Fallmeldungen aus dem Kreis Olpe ist im Jahr 2022 mit 17 % gestiegen (12 % in 2021). Die registrierten Meldungen aus Rheinland-Pfalz liegen bei 7 % (Vorjahr 10 %). 22 % der Meldungen kamen aus dem benachbarten Hessen.

Von links: Andy Trägner (Schulberatungsstelle Kreis Si-Wi), Antje Maaß-Quast (Mitarbeiterin der Ärztlichen Beratungsstelle), Carsten Jochum (Geschäftsführer DRK-Kinderklinik Siegen), Marina Beer (Mitarbeiterin der Ärztlichen Beratungsstelle), Susanne Otto (Kriminalhauptkommissarin und Leiterin des Kriminalkommissariats Prävention/Opferschutz) und Diplom-Psychologe Reinhard Semmerling (Vorstandsmitglied bis Mai 2023).
Von links: Andy Trägner (Schulberatungsstelle Kreis Si-Wi), Antje Maaß-Quast (Mitarbeiterin der Ärztlichen Beratungsstelle), Carsten Jochum (Geschäftsführer DRK-Kinderklinik Siegen), Marina Beer (Mitarbeiterin der Ärztlichen Beratungsstelle), Susanne Otto (Kriminalhauptkommissarin und Leiterin des Kriminalkommissariats Prävention/Opferschutz) und Diplom-Psychologe Reinhard Semmerling (Vorstandsmitglied bis Mai 2023). © DRK-Kinderklinik

Siegen: Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – Mädchen sind häufiger betroffen

137 Beratungsanfragen bezogen sich im vergangenen Jahr auf Mädchen und junge Frauen, 125 Anmeldungen auf Jungen (2021: 143/109). Der Anteil der Beratung von Mädchen und Frauen an den gesamten Beratungsfällen beträgt damit 52 % (2022: 57 %). „Beratungsanfragen für Jungen haben 2022 zugenommen“, merkt die Kinderklinik an. Größere Unterschiede der Meldezahlen nach Geschlechtern zeigen sich in der Altersgruppe 12 Jahre plus. „Hier liegt die Fallzahl der Mädchen deutlich über der Zahl der gemeldeten Jungen.“

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96,5 Prozent der Fälle hatten mit Misshandlungssyndromen zu tun, also sexuellem Missbrauch, Kindesmisshandlung oder Vernachlässigung (2021: 92 %). Bei 25 % der Anmeldungen (2021: 25 %) wurde häusliche Gewalt beziehungsweise emotionale Misshandlung als einer der Anmeldegründe genannt. Vernachlässigung wurde insgesamt in 15 % der Fälle genannt (2021: 21 %) und ist im Vergleich zum Vorjahr leicht gesunken.

Siegen: Mädchen sind häufiger Opfer sexuellen Missbrauchs

15 Mal wurde Beratungsbedarf für sexuell übergriffige Kinder oder Jugendliche angemeldet (2021: ebenfalls 15).

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71 Mal stand bei den Mädchen der Verdacht auf sexuelle Misshandlung an erster Stelle. Das entspricht 52 %. Bei den Jungen ging es 2022 vorwiegend um den Bereich der körperlichen Misshandlung (53 %, 66 Nennungen), gefolgt von Verdacht auf emotionale Misshandlung (44 %, 55 Nennungen; Vorjahr: 56 %). Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch wurde bei den Jungen in fast jedem vierten Fall (23,2 %) genannt. Elf Meldungen gab es bei den Jungen im Bereich der Abklärung sexueller Übergriffe/Misshandler (9 in 2021), dazu 4 Mädchen.

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Siegen: „Kultur des Hinsehens“ gefordert

Antje Maaß-Quast appelliert an die Öffentlichkeit, „eine „Kultur des Hinsehens“ in diesen schwierigen Zeiten zu fördern und die Handlungsfähigkeit aller Beteiligten durch Fortbildung und Aufklärung zu stützen“. Dafür seien trotz Pandemie Schulungen mit dem Titel: „Erkennen und Vorgehen bei Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen“ in Zusammenarbeit mit der Kinderschutzgruppe der DRK-Kinderklinik Siegen angeboten worden. „Die Fortbildungen wurden gut angenommen“, schreibt die Kinderklinik. „Aufgrund der hohen Nachfrage soll diese Fortbildung auch zukünftig weiterhin zweimal jährlich angeboten werden.“

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„Wir müssen die interne und die externe Vernetzung aufrechterhalten und nun nach der Pandemie wieder intensivieren“, ergänzt Marina Beer. „Ein enger Austausch ist ebenso unabdingbar wie eine multiprofessionelle Zusammenarbeit in konkreten Fällen.“ Die ÄB arbeite daher eng mit dem interdisziplinären Team der Kinderschutzgruppe (KSG) der DRK-Kinderklinik zusammen. Zusätzlich zur Zusammenarbeit in Akutfällen trifft sich das Team regelmäßig zum Austausch. Durch die Kooperation der KSG und der ÄB gelinge eine vollständige Begleitung der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern.

Ärztliche Beratungsstelle Siegen: Neue Mitglieder im Vorstand

„Die notwendige Vernetzung mit den niedergelassenen Kinderärzt:innen und den niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater:innen hat sich gefestigt und weiterentwickelt“, so die Kinderklinik. Kontinuierliche Gespräche und der fachliche Austausch seien fortgeführt worden.

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Da der stellvertretende Vorsitzende des Vorstands der ÄB, Dipl.-Psychologe Reinhard Semmerling, sich nach mehr als 30 Jahren ein wenig bei der Vereinsarbeit zurücknehmen und auch Ingrid Freter die Arbeit im Vorstand aus Altersgründen beenden möchte, war die Wahl eines neuen Vorstandsgremiums notwendig. Neu gewählt wurden Andy Trägner, Dipl. Psychologe, tätig in der Regionalen Schulberatungsstelle des Kreises, und Susanne Otto, Kriminalhauptkommissarin, Leiterin des Kommissariats Opferschutz/Prävention bei der Kripo Siegen.

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