Siegen. Angst vor Mitschülern, Leistungsdruck, Krankheit: Kinder mit psychischen Problemen sind in der Pandemie übersehen worden. So rächt sich das nun.
Als der erste Lockdown kam, habe es Patientinnen und Patienten gegeben, „wo wir die Luft angehalten haben“, sagt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Christin Henrich. Der Schulbesuch entfiel, Kontakte außer Haus blieben aus, in der Isolation verpufften mühsam erarbeitete Behandlungserfolge. „Wir wussten, wir werden nach vier Wochen in einigen Fällen wieder bei Null anfangen.“
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Die Coronakrise und die damit verbundenen Einschränkungen und Begleiterscheinungen haben viele Kinder und Jugendliche hart getroffen. Besonders heftig aber wirkten sich die Maßnahmen oft für diejenigen aus, die vorher schon Probleme mit dem Schulbesuch, dem Umgang mit Gleichaltrigen oder Situationen im öffentlichen Raum hatten. Was der veränderte Alltag für diese Gruppe bedeuten würde, „ist bei den Lockdowns nicht mitbedacht worden“, sagt Christin Henrich. Sie arbeitet seit 1. Februar in der neu eröffneten kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz an der DRK-Kinderklinik, war aber bereits vorher in einer eigenen Praxis in Siegen tätig. „Viele Jugendliche, die lange nicht in der Schule waren, trauen sich jetzt nicht mehr.“ Das gehe soweit, dass manche Kinder nun quasi gar nicht mehr regulär beschult werden könnten.
Corona Siegen: Ängste von Kindern und Jugendlichen im Lockdown oft verschärft
Die Gründe, wieso den Betroffenen die Rückkehr in die Vor-Pandemie-Normalität schwerfällt, sind unterschiedlich:
Soziale Ängste. Kinder und Jugendliche, die darunter leiden, haben Angst vor ablehnenden Reaktionen, insbesondere vor Bewertungen – etwa, dass andere über sie lachen oder der Lehrer die Augen verdreht. Die Betroffenen trauen sich oft nicht, vor anderen etwas zu sagen. Lockdowns kommen ihnen deshalb – vermeintlich – entgegen, weil sich so das Aufeinandertreffen mit anderen Menschen umgehen lässt. Bei Modellen wie Home-Schooling können die Kinder und Jugendlichen vor dem Monitor weitgehend abtauchen, außerdem ist in der Zoomkonferenz das Maß nonverbaler Kommunikation deutlich reduziert: genervtes Ausatmen oder Kichern von anderen, süffisante Tonlagen oder abwehrende Körperhaltungen lassen sich über die kleinen Kacheln im digitalen Kanal nicht so deutlich wahrnehmen.
Siegen: Isolation im Lockdown erhöht den Druck gerade auf Kinder mit Angststörungen
Die Entlastung, die Betroffene dadurch empfinden, ist aber nur kurzfristig. Dem steht ein gesteigertes Risiko gegenüber, dass das Vermeidungsmuster sich langfristig verfestigt, weil den Kindern und Jugendlichen der Abgleich ihrer Ängste mit der Realität fehlt: Um im Alltag zurechtzukommen, würde ihnen nämlich in aller Regel die fortgesetzte Erfahrung helfen, dass andere gar nicht in der befürchteten Art und Weise auf sie reagieren – und dass nicht jedes Kichern, Stöhnen oder Schnaufen anderer Leute überhaupt mit ihnen zu tun hat. Es geht darum, „dysfunktionale Gedanken“ – also solche, die belastend und aus der Situation heraus nicht angemessen sind – als solche zu erkennen, sie zu verstehen und zu korrigieren, wie Christin Henrich erläutert. Dafür sei aber kontinuierliches Training wichtig.
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Leistungsängste. Manche Kinder und Jugendliche hätten Angst, in der Schule zu versagen, erklärt die Therapeutin. Dabei spielen oft hohe Ansprüche eine Rolle, die Menschen an sich selbst haben oder die von anderen an sie gestellt werden. Die Corona-Monate können hier verschärfend wirken, wenn Schülerinnen und Schüler auf den Gedanken verfallen, sie müssten trotz pandemiebedingter Versäumnisse auf dem Stand sein, den sie ohne die Krise hätten haben können – denn das erhöht den Druck, geht an den realen Gegebenheiten aber völlig vorbei.
Corona Siegen: Ängste von Kindern und Jugendlichen nehmen zu
Angst vor Krankheiten. Ein gewisses gesteigertes Maß an Angst vor Ansteckung mit einer Krankheit ist in der Pandemie natürlich angemessen. Für Menschen, die generell dazu neigen, kam mit Corona allerdings nicht nur eine neue Bedrohung hinzu, sondern mit den Lockdowns auch ein Rahmen, innerhalb dessen sie angstbesetzte Situationen vermeiden konnten. Die krankhafte Angst vor Krankheiten schränkt Betroffene mitunter sehr massiv ein, und wie bei den Sozialphobien entfiel der Abgleich mit der Wirklichkeit. Eine Frage des Alters ist es übrigens nicht: Schon Kinder können darunter leiden.
Körperliche Symptome
Gerade, wenn die Ängste mit körperlichen Symptomen wie Kopfweh, Bauchschmerzen oder Übelkeit verbunden sind, stehen zunächst auch ärztliche Untersuchungen an, um organische Ursachen auszuschließen, erklärt Christin Henrich. Manche Kinder und Jugendliche würden wegen der Symptome sogar erst auf einer der Stationen in der Kinderklinik aufgenommen – und erst dort würden dann die Ängste als Auslöser erkannt.
Ein spezielles Problem bei den Schulängsten ergibt sich tatsächlich allein aufgrund der Pandemie: Es gibt Erst- und Zweitklässler, die die Schulgebäude und den gewöhnlichen Unterricht kaum von innen kennen. Würden diese dann erst in einer höheren Klasse in den regulären Schulalltag einsteigen, könnten Schwierigkeiten auftreten, weil die sonst übliche frühe Eingewöhnung nicht habe stattfinden können.
Die Bandbreite an Ängsten, die Kindern und Jugendlichen den Alltag erschweren können, geht noch um Einiges weiter und ist sehr individuell. Jungen und Mädchen etwa, die im Elternhaus Spannungen oder eine Trennungsthematik erleben, könnten mit der Rückkehr zum Präsenzunterricht ebenfalls unter Stress geraten, wenn sie in Verbindung damit einen Kontrollverlust empfinden: „Wenn ich in der Schule bin, könnte zuhause etwas passieren – und ich kann nicht aufpassen“, gibt Christin Henrich ein Beispiel für einen typischen quälenden Gedanken.
Corona Siegen: Therapieplätze für Kinder und Jugendliche häufig nur über Warteliste
Gerade im Hinblick auf vorbelastete Kinder sei während der Pandemie nicht alles optimal gelaufen, sagt Christin Henrich. Es gab zwar viele „sehr engagierte Eltern, die ihren Kindern weiterhin Kontakte ermöglichen wollten; aber viele mussten arbeiten und ihre Kinder alleine lassen – und das kann man vielen auch nicht verübeln“. Auf schulischer Ebene hätte eine stärkere Konzentration auf Alternativen zum Homeschooling hilfreich sein können. „Ich finde Wechselunterricht ganz gut“, sagt Christin Henrich. Selbst „mit nur ein paar Schülern für ein paar Stunden am Tag“ ließe sich so trotzdem „Realität üben“.
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Wie hoch der Bedarf an Therapieplätzen für Kinder und Jugendliche in der Region generell ist, zeigte sich mit Eröffnung der Ambulanz an der DRK-Kinderklinik am 1. Februar einmal mehr. „Wir hatten die ersten Tage sehr viele Anrufe“, berichtet Christin Henrich. Außer ihr ist noch ihre Kollegin Nan Yang dabei. Die Ambulanz wurde auch eingerichtet, um die bestehende Versorgungslücke in Siegen und Umgebung zu schließen. Wie in vielen anderen Regionen übersteigt die Nachfrage das Angebot deutlich. Das wird wohl noch eine Weile so bleiben. „Jetzt haben auch wir eine Warteliste“, sagt Christin Henrich. „Und das wäre wahrscheinlich auch ohne Corona so gewesen.“
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