Dreis-Tiefenbach. Bei Psychokrisen wird Betroffenen in Skandinavien mit „Offenem Dialog“ geholfen. In Deutschland gibt es die Methode kaum. Woran liegt das?

Die Realität ist verzerrt. Die Angst wird übermächtig. Die Stimmung stürzt in eiskalte Dunkelheit. Bei akuten psychischen Krisen kann die Welt aus den Fugen geraten, Hilfe muss her. Wie diese aussieht, hängt allerdings auch davon ab, in welchem Land Betroffene leben. Reiner Stephan aus Dreis-Tiefenbach baut auf eine Methode, die in Skandinavien erfolgreich ist. Doch in Deutschland wird der „Offene Dialog“ kaum angeboten, obwohl im Entstehungsland Finnland seit der Etablierung Klinikaufenthalte und Verschreibung von Neuroleptika deutlich gesunken sind.

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„Ich möchte etwas für betroffene Menschen machen. Aber das kann nur über eine größere Bewegung laufen“, beschreibt Reiner Stephan, wieso er „Bedürfnisorientierte Behandlung“ und „Offenen Dialog“ in Deutschland bekannter machen will. Der 67-Jährige ist im Ruhestand. Er ist ehemaliger Polizeibeamter. Zum Thema „Psychische Gesundheit“ hat er einen unmittelbaren Bezug, seit er im Jahr 2010 eine Depression bekam. Zwei Mal war er deswegen in einer Klinik, er ist therapieerfahren. Und er hat den Kampf gegen die Krankheit nicht nur für sich persönlich, sondern viel weitreichender aufgenommen.

Reiner Stephan aus Dreis-Tiefenbach setzt sich als Depressions-Erfahrener für Betroffene ein. Unter anderem möchte er die Methode des „Offenen Dialogs“ in Deutschland bekannter machen. In Skandinavien ist diese zur Behandlung akuter psychischer Krisen etabliert und erfolgreich.
Reiner Stephan aus Dreis-Tiefenbach setzt sich als Depressions-Erfahrener für Betroffene ein. Unter anderem möchte er die Methode des „Offenen Dialogs“ in Deutschland bekannter machen. In Skandinavien ist diese zur Behandlung akuter psychischer Krisen etabliert und erfolgreich. © WP | Florian Adam

Siegen: Methode „Offener Dialog“ könnte Menschen in Psychokrisen einiges ersparen

Reiner Stephan geht offen damit um, hat das auch im Polizeidienst bereits getan, macht sich stark gegen Stigmatisierung, klärt auf, unterstützt Betroffene. Für Letzteres hat er sich im Projekt „Experienced – Involvement“ (Ex-In) qualifizieren lassen, bei dem Menschen, die selbst psychisch erkrankt gewesen und mittlerweile stabil sind, als Unterstützer ausgebildet werden. Auch für den Offenen Dialog hat er eine Weiterbildung. Er ist überzeugt, dass die Methode es vielen Betroffenen einfacher machen könnte – auch, weil sie Maßnahmen vermeidbar machen kann, die im deutschen System üblich sind: „Akut-Psychiatrie ist nicht schön.“

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Die Wurzeln der Methode liegen im Finnland der späten 1960er Jahre, seitdem wurde sie weiterentwickelt. Ursprünglich ging es um Psychosen und Schizophrenie, doch auch bei anderen psychischen Schwierigkeiten wie Depressionen sei es vielversprechend, sagt Reiner Stephan. Das zentrale Instrument ist das so genannte Netzwerkgespräch, zu dem Personen aus dem engeren Umfeld des Patienten oder der Patientin eingeladen werden.

„Offener Dialog“ zur Behandlung psychischer Krisen erweitert Blick auf die Symptome

Die Teilnahme ist natürlich freiwillig, aber die skandinavischen Erfahrungen weisen auf eine insgesamt hohe Bereitschaft hin. Es sind Familienmitglieder, Freunde, es können auch Kollegen oder Nachbarn sein, sofern ein engerer Bezug besteht oder ihre Teilnahme aus sonstigen Gründen relevant sein könnte. Außerdem sind zwei für Offenen Dialog ausgebildete Außenstehende dabei – Therapeuten oder Berater –, die das Gespräch moderieren und am Laufen halten. Diese treten aber nicht als die Fachleute in Erscheinung, die Diagnose und Behandlungsschritte parat haben, sondern sind Akteure innerhalb einer gleichberechtigten Runde. „Offener Dialog“ ist wörtlich zu verstehen: Jeder darf alles sagen und aussprechen, ohne dass es von den Profis bewertet oder interpretiert wird. Stattdessen reagieren sie wertschätzend und damit ermutigend, bringen sich selbst aber auch gleichberechtigt ein, indem sie reagieren oder über eigene Gefühle und Gedanken angesichts des Geschilderten reden.

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Was oberflächlich betrachtet nach planlosem Geplauder im Psycho-Kaffeekränzchen klingen könnte, entwickelt den skandinavischen Erfahrungen nach faktisch höchst konstruktiven Tiefgang. Der Betroffene schildert offen, was ihn bewegt und was er erlebt. Die Menschen aus seinem Umfeld sprechen über das, was sie an ihm wahrgenommen haben und wahrnehmen und was sie diesbezüglich denken oder fühlen. So soll eine Vielzahl von Perspektiven aufkommen, die durchaus widersprüchlich sein können. Und es soll eine gemeinsame Sprache entstehen für das, was in der Krise passiert. Das kann den Blick darauf schärfen, was sich in den Symptomen an konkreten Belastungen, Erfahrungen oder Traumata ausdrückt. Die Offenheit der Beteiligten ermöglicht es dabei, auch – teilweise sei Langem – Unausgesprochenes zu äußern. „Da geht es ans Eingemachte“, sagt Reiner Stephan. „Darum hat es so einen Erfolg.“

„Offener Dialog“ bei psychischen Erkrankungen: Patienten machen schneller Fortschritte

Wie mit den Erkenntnissen weiter umzugehen ist, wird in der Runde erörtert, wobei der Patient oder die Patientin gemäß der Devise „Nichts über mich ohne mich“ immer anwesend sein muss. Dabei könne zum Beispiel auch herauskommen, dass ein Klinikaufenthalt sinnvoll ist. In Finnland sei das Studien zufolge aber seit Anwendung der Methode zunehmend seltener der Fall, berichtet Reiner Stephan. Außerdem sei die Zahl der Rückfälle gesunken, während die Integration in den ersten Arbeitsmarkt bei Betroffenen auf bis 75 Prozent gestiegen sei und 40 bis 70 Prozent der psychotischen Klienten ganz ohne Neuroleptika auskämen. Innerhalb des Offenen Dialogs werden diese Medikamente zunächst, wenn überhaupt, nur schwach dosiert eingesetzt, weil die teils massiven Nebenwirkungen es den Patientinnen und Patienten erschweren können, am Verfahren vollumfänglich teilzuhaben.

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Das Problem, den Offenen Dialog auch nach Deutschland zu bringen, liegt nach Einschätzung von Reiner Stephan in den Strukturen begründet. „Vom System her läuft das hier nicht“, sagt er. Das deutsche Gesundheitssystem sei unflexibler als in manchen anderen Ländern, auch wegen Budgetierungen. Außerdem erfordere die Methode eine aufwendige Infrastruktur. Eine der Prämissen ist, dass bei einer akuten Krise sehr schnell Hilfe erfolgt. In Finnland gebe es ambulante Zentren, in denen Menschen sich melden können, und dann würden die Mitarbeitenden innerhalb von 24 Stunden ein erstes Netzwerktreffen organisieren. Dies findet in der Regel in der Wohnung der Betroffenen statt, dauert mindestens 90 Minuten und wird von mindestens zwei Fachleuten begleitet. In den ersten Tagen können diese Treffen täglich stattfinden, später wird die Frequenz deutlich geringer und die Gespräche finden nur alle paar Monate statt.

Siegen: Reiner Stephan sucht Mitstreiter, um „Offenen Dialog“ bekannter zu machen

Klar ist: Anfangs sind die Kosten sehr hoch. Auf Dauer betrachtet sind sie allerdings, so die Beobachtungen aus Skandinavien, niedriger – auch, weil die so Behandelten meist schneller wieder am Arbeitsleben teilhaben können. Das Ergebnis der Gesamtrechnung ist damit zwar auch in wirtschaftlicher Hinsicht positiv, doch die einzelnen Posten können isoliert betrachtet im Ungleichgewicht sein. Will heißen: Die höheren Kosten liefen zwar in der Regel bei der Krankenkasse auf, aber die später an anderer Stelle erfolgenden Einsparungen kämen ihr nicht zugute.

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Reiner Stephan hat vor allem die Betroffenen im Blick, für die er sich den Offenen Dialog als Option wünscht, um rasch und effektiv aus akuten Krisen heraus und langfristig zu einem stabilen Umgang mit ihren Erkrankungen finden zu können. In einigen Universitätsstädten, etwa in Freiburg, gebe es Vereine, die die Methode anbieten, doch in einem solchen Rahmen sei das natürlich nur eingeschränkt möglich. Sein Wunsch ist, „dass ich Mitstreiter finde, die sich ebenfalls weiterbilden lassen“ – und vielleicht die Gründung eines entsprechenden Vereins in der heimischen Region. Noch besser wären natürlich eine allgemeine Anerkennung der Methode und die Kostenübernahme innerhalb des Gesundheitssystems. Das werde noch dauern, doch Reiner Stephan möchte mit seiner Arbeit einen Anfang machen. Der Bedarf an Hilfe für Menschen in akuten Krisen wird steigen, ist er sicher: „Es werden mehr Leute und sie werden immer jünger.

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