Siegen. Scham, Angst, Überforderung: Kinder süchtiger Eltern leiden massiv, aber oft im Verborgenen. Die AWO-Suchthilfe Siegen kennt Ausmaß und Risiken.

Viele leiden still, ziehen sich zurück. Kinder suchtkranker Eltern fallen oft nicht auf. Sie funktionieren einfach; funktionieren in Rollen, die ihrem Alter und ihrer Position in der Familie nicht entsprechen. „Das macht natürlich etwas mit Kindern“, sagt Cornelia Hartmann, Abteilungsleiterin Suchthilfe und Ambulant betreutes Wohnen bei der AWO. Um diesen Jungen und Mädchen früher helfen und Gefahren und Schäden besser von ihnen abwenden zu können, hat die AWO-Suchthilfe Siegen ein neues Instrument entwickelt: Einen Einschätzungsbogen, dank dessen die Kinder früher als bisher Chancen auf Unterstützung bekommen.

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„Es gibt viele Kinder und Eltern, die keine Hilfe erfahren, weil sie noch nicht am Boden sind. Doch da müssten sie gar nicht erst hinkommen“, erläutert die Sozial- und Suchttherapeutin. Kinder aus suchtbelasteten Familien hätten ein deutlich erhöhtes Risiko, selbst eine Sucht- oder eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Einerseits vermitteln ihnen ihre Bezugspersonen, dass in schwierigen Momenten der Griff zum Rauschmittel – sei es legal oder illegal – ein angemessener Weg ist, um Erleichterung zu erfahren. „Abhängigkeit kompensiert immer ein Problem: Stress, Trauer, Wut“, erklärt Cornelia Hartmann. Es sei sehr heikel, „wenn in der Familie keine anderen Strategien vorgelebt werden“.

Siegen: Kinder süchtiger Eltern managen oft Aufgaben, die nicht kindgerecht sind

Andererseits stünden die Kinder meist unter besonderer Belastung, weil sie das ausgleichen müssten, was der Elternteil wegen seiner Erkrankung nicht auf die Reihe bekommt: „Sie übernehmen den Haushalt, managen alles, kümmern sich um die Geschwister.“ Selbst, wenn die Kinder das irgendwie schaffen, sind sie zwangsläufig überfordert „und haben keine Zeit, Kind zu sein“.

Info und Kontakt

Nicht alle Kinder aus suchtbelasteten Familien reagieren mit Rückzug und überangepasstem Verhalten, erklärt Cornelia Hartmann von der AWO-Suchthilfe. Es gebe auch andere, die laut und unangepasst seien und deshalb etwa in der Kita oder Schule auffallen.

Einige Kinder aus betroffenen Familie seien schon im System der Jugendhilfe. Auf diese sei das LWL-Projekt „Make the Difference“ allerdings nicht ausgerichtet: Denn diese Kinder und ihre Probleme seien bereits erkannt.

Die AWO-Suchthilfe hat ihre Räume in der Hindenburgstraße 8 in Siegen, 0271/38 68 12 -0, suchthilfe@awo-siegen.de, online: suchthilfe-siegerland.de

Beratungstermine können auch online gebucht werden. Für die Gespräche sind auch Video-Sitzungen möglich.

Hinzukommt der Druck, die Situation nicht nach außen sichtbar werden zu lassen: Heimlichkeiten, verbergen, sogar schwindeln, wenn etwa eine Begründung gebraucht wird, warum die Freunde schon wieder nicht zu Besuch kommen können. Wenn die korrekte Antwort „Weil Mama betrunken auf der Couch liegt“ wäre, ziehen viele eine Lüge vor – weil sie sich für die Wahrheit schämen oder Angst haben, dass die Eltern sonst Ärger kriegen. Dabei wäre es im Interesse der Kinder wichtig, so rasch wie möglich Unterstützung zu erhalten, unterstreicht Cornelia Hartmann: „Je früher wir helfen können, desto besser.“ Dies könne beispielsweise über andere Vorbilder geschehen oder über die Erarbeitung so genannter Resilienz – also von Fähigkeiten, mit Belastungen anders umzugehen als durch Drogen, Medikamente, Alkohol.

Siegen: Bei „Sucht“ denken viele an Christiane F. – doch die Wahrheit ist oft eine andere

Zwei Faktoren erschweren es zusätzlich, auf betroffene Kinder frühzeitig aufmerksam zu werden:

• Sucht, hebt Cornelia Hartmann hervor, zieht sich durch alle Schichten. In vielen Köpfen herrscht allerdings noch immer das Klischee von Schmuddelecke, Gosse und Hauptbahnhof vor, wie es durch Christiane F. geprägt wurde. „Aber die Leute, denen man es ansieht, sind die wenigsten“, sagt Cornelia Hartmann. Die meisten würden nach außen ein scheinbar gewöhnliches Leben führen, stünden im Beruf, seien Verkäufer, Lehrer, Ärztinnen, „die aber zur Krücke Suchtmittel greifen“. Selbst wenn das Kind dann beispielsweise in der Schule auffällt – sei es wegen nachlassender Leistungen oder wegen schwierigen Verhaltens – und die Eltern zum Gespräch eingeladen würden, tauchten diese dort in aller Regel nüchtern beziehungsweise clean auf, hinterließen einen tadellosen Eindruck und lieferten keine Hinweise auf die eigentliche Wurzel der Schwierigkeiten.

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• „Ein Problem bei Abhängigkeit ist, dass Leute weggucken“, beschreibt die Expertin den anderen Faktor. Geredet werde darüber meist auch nicht, weder in den Familien, noch nach außen, noch von außen. Das Thema ist tabuisiert. „Ich glaube, dass es immer Menschen im Umfeld von suchtbelasteten Familien gibt, die etwas mitkriegen“, sagt Cornelia Hartmann. Das könnten Verwandte sein, Freunde, auch Nachbarn. Die meisten hätten aber Hemmungen, das direkte Gespräch zu suchen, und erst Recht, sich beispielsweise ans Jugendamt zu wenden. Der Gedanke „Dann wird denen das Kind weggenommen – und ich bin schuld“, sei noch immer weit verbreitet. „Dabei ist das totaler Quatsch“, ordnet die Fachfrau ein. Die gefürchtete Inobhutnahme komme nur selten vor. Tatsächlich gehe es um Hilfe für die Familien. „Man muss sich davon lösen, dass Suchtkranke per se schlecht Eltern sind. Es sind oft sehr gute Eltern, die alles für ihre Kinder tun. Sie haben halt nur ein Problem.“ Sich einzuschalten sei nicht mit „sich einzumischen“ gleichzusetzen. „Für mich hat jeder Mensch die Pflicht, tätig zu werden, wenn es Kindern nicht gut geht“, sagt Cornelia Hartmann.

AWO-Suchthilfe Siegen nimmt Kinder suchtkranker Eltern gezielt in den Blick

Wie Menschen auf Familien zugehen und sie ansprechen können, wenn sie eine Suchtproblematik vermuten, darüber können sie auch mit dem Team der AWO-Suchthilfe reden und sich so vorbereiten: „Zu uns kann jeder kommen.“ Wenn daraufhin – oder aus eigenem Antrieb – auch die betroffenen Eltern zur Suchtberatung gehen, ist mittlerweile die Frage nach den Kindern ein wichtiger Punkt. Ob es Kinder in der Familie gibt, sei zwar schon immer erhoben worden, erläutert Cornelia Hartmann. Lange habe dies aber in der Arbeit mit dem Klienten oder der Klientin keine gewichtigere Rolle gespielt. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe startete deshalb im Jahr 2021 ein europaweites Projekt mit dem Titel „Make the Difference“, das genau diesen Aspekt in den Mittelpunkt stellte und an dem Einrichtungen aus 13 Ländern teilgenommen habe.

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Für Deutschland war die AWO-Suchthilfe Siegen in Kooperation mit dem Jugendamt des Kreises Siegen-Wittgenstein dabei. „In diesem Projekt hat sich das Bewusstsein für das Problem verändert“, berichtet Cornelia Hartmann. Das Siegener Team entwickelte einen Einschätzungsbogen, auf Grundlage dessen die Situation der Kinder – sofern vorhanden – dezidiert erfasst und betrachtet wird. Gefragt wird zum Beispiel, ob das Kind zur Kita oder in die Schule geht, welche Bezugspersonen es gibt. Dem Berater oder der Beraterin gibt das einen guten Überblick und „je nach Ergebnis gehen wir auch in den kollegialen Austausch“. Der Bogen wird übrigens nichts im Gespräch mit den Klienten ausgepackt, durchgegangen und Schritt für Schritt abgehakt. Stattdessen fließen die Fragen in das Gespräch über die Lebenssituation ein. Die Antworten werden im Anschluss eingetragen.

Cornelia Hartmann ist Abteilungsleiterin Suchthilfe und Ambulant Betreutes Wohnen bei der AWO in Siegen. „Man muss sich davon lösen, dass Suchtkranke per se schlecht Eltern sind“, sagt sie. „Es sind oft sehr gute Eltern. Sie haben halt nur ein Problem.“.
Cornelia Hartmann ist Abteilungsleiterin Suchthilfe und Ambulant Betreutes Wohnen bei der AWO in Siegen. „Man muss sich davon lösen, dass Suchtkranke per se schlecht Eltern sind“, sagt sie. „Es sind oft sehr gute Eltern. Sie haben halt nur ein Problem.“. © WP | Florian Adam

Siegen: Jedes sechste Kind ist im Elternhaus mit Sucht konfrontiert

Die Gespräche sind als sogenannter geschützter Raum angelegt, in dem alles offen ausgesprochen werden darf. Das Team der Suchthilfe, betont Cornelia Hartmann, unterliegt der Schweigepflicht. Die Eltern erhalten je nach Bedarf Hinweise auf weitere Angebote und andere Stellen, an die sie sich wenden können. Auch Kontakt zum Jugendamt ist eine Option. Dieses könne eine große Bandbreite an Unterstützung vermitteln.

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Eindringlich möchte die Expertin dafür werben, die Problematik nicht auszublenden. „Ich höre ganz oft beispielsweise von Schulen: ,Bei uns ist das kein Thema’. Aber tatsächlich ist jedes sechste Kind in Deutschland von Sucht in der Familie betroffen.“ Das heißt: In einer durchschnittlichen Schulklasse sitzen drei bis vier Jungen und Mädchen, die zuhause damit konfrontiert sind. Doch die meisten davon leiden nun einmal still.

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