Siegen. . Antje Maaß-Quast hilft Kindern und Jugendlichen, die von Gewalt und Missbrauch betroffen sind – und ihren Familien.

Wenn Kinder Gewalt oder sexuellen Missbrauch erleben, ist Antje Maaß-Quast eine Ansprechpartnerin für die Betroffenen und Familien. Die Systemische Supervisorin und Kinder- und Jugendlichentherapeutin arbeitet in der Ärztlichen Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen an der DRK-Kinderklinik. Über ihre Aufgaben und Ansätze sprach sie mit Florian Adam.

Wer kommt zu Ihnen?

Antje Maaß-Quast: Ich arbeite mit Kindern und Jugendlichen, die von Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch betroffen sind. Ich bin auch Ansprechpartnerin für deren Eltern und Angehörige – und für Menschen, die professionell mit Kindern arbeiten. Es können sich also beispielsweise auch Lehrer oder Sozialpädagogen melden, die einen Verdacht haben oder denen sich ein Kind anvertraut hat.

Wie gehen Sie an die Probleme heran?

Misshandlung ist nicht isoliert zu betrachten. Das gesamte Lebensumfeld des Kindes wird mit in den Blick genommen, eine differenzierte Einschätzung der aktuellen Situation dient als Grundlage für das weitere Vorgehen. Ich arbeite systemisch – das heißt, ich nehme das ganze Familiensystem in den Blick. Dafür müssen nicht alle Personen bei mir erscheinen, aber es ist wichtig, dass ich die Gesamtzusammenhänge und Beziehungen kenne.

Sie reden also mit Kindern und Eltern gleichermaßen?

In der Regel erst mit den Eltern, dann mit den Kindern oder Jugendlichen allein. Selbst Kindern, die sich öffnen wollen, fällt es mitunter schwer, über manche Dinge im Beisein der Eltern zu reden. Der Verursacher – ich möchte nicht „Täter“ sagen – ist allerdings meist nicht dabei. Das macht es den anderen leichter, sich zu öffnen. Oft tritt eine große Entlastung ein, wenn die Betroffenen frei sprechen können.

Vielen Eltern fällt es sicher schwer, solche Probleme zu thematisieren.

Ich nehme nicht die Position der Anklage ein. Ich argumentiere mit der gemeinsamen Sorge um das Wohl des Kindes, damit kann ich Eltern zur Mitarbeit gewinnen. Unser Motto ist „Hilfe statt Strafe“; und ich mache deutlich, dass es um eine Unterstützung geht – zusammen zu erarbeiten, welche Bedarfe hat das Kind, die Familie. Mir ist ganz wichtig: Es gibt viele Angebote und Hilfen, die Eltern ohne eine Gefahr der Stigmatisierung in Anspruch nehmen können.

Fast 160 Fälle im Jahr

Die Ärztliche Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen ist an der DRK-Kinderklinik angesiedelt, aber eine eigenständige Einrichtung. Sie ist Anlaufstelle für Betroffene und vermittelt nach einer genauen Einschätzung der Situation an andere Einrichtungen weiter.

Im Jahr 2017 betreute sie 155 Kinder und Jugendliche. Etwa zwei Drittel sind Mädchen. „Mädchen sind eher gewohnt, sich Hilfe zu holen“, sagt Antje Maaß-Quast. Bei Jungen ab einem Alter von elf bis zwölf Jahren hingegen sinken die Zahlen in der Beratungsstelle. Ein Grund dafür könnte das immer noch vorherrschende Männerbild in der Gesellschaft sein, demnach Jungen eher versuchen, mit ihren Problemen alleine klar zu kommen.

Etwa ein Drittel der Familien, die in die Ärztliche Beratungsstelle kommen, melden sich von sich aus. Der Kontakt zu den übrigen zwei Dritteln wird über „Fremdmelder“ hergestellt, also beispielsweise niedergelassene Kinderärzte, Jugendhilfe, die DRK-Kinderklinik oder die Polizei

Außerdem gab es im Jahr 2017 auch 55 so genannte kollegiale Beratungen von beispielsweise Lehrkräften, Kita-Mitarbeitern oder Akteuren aus der Jugendarbeit.

Generell kann sich jeder melden, der Hilfe braucht oder betroffene Kinder und Jugendliche kennt und ihnen helfen möchte. Die Beratung ist anonym und kostenlos.

Wie schaffen Sie es, dass die Jungen und Mädchen sich Ihnen mitteilen?

Ich erkläre ihnen, wie ich arbeite: dass Kinder zu mir kommen, die etwas Schlimmes erlebt haben. Manche Kinder beginnen dann von sich aus zu erzählen. Bei anderen frage ich nach: Ist Dir sowas schon mal passiert? Oder kennst Du jemandem, dem so etwas passiert ist?

Das größte Risiko, Opfer zu werden, besteht in der eigenen Familie?

Die meisten Misshandlungen und Missbrauchsfälle finden im engeren familiären Umfeld statt.

Als Laie geht man davon aus, dass Kinder dann aus den Familien genommen werden.

Ganz oben steht der Opferschutz. Aber Inobhutnahmen sind wirklich die Ausnahme. Ich muss klären, ob die Kinder in Sicherheit sind oder ob der Verursacher im Haushalt lebt. Viele Kinder öffnen sich erst nach Jahren, gerade bei sexuellem Missbrauch. Solange der Verursacher im Haus wohnt, sagen sie nichts, weil sie Angst vor ihm haben; oder Angst davor, dass die Mutter ihnen nicht glaubt.

Hilft es denn noch, erst nach Jahren über das Erlebte zu sprechen?

Auch Dinge, die lange zurückliegen, sollten aufgearbeitet werden, um eine gesunde Entwicklung im psychosozialen Bereich zu ermöglichen. Gerade, wenn es um Erlebnisse mit engen Bezugspersonen geht, bedeutet das eine Erschütterung des Urvertrauens. Kindern und Jugendlichen, die Opfer von Misshandlung und Missbrauch wurden, fällt es später oft schwer, Gefühle von Sicherheit, Vertrauen und damit soziale Kontakte aufzubauen. Sie haben außerdem oft Schwierigkeiten mit dem Selbstbewusstsein, da entstehen riesige Defizite.

Zwischen den Zeilen klingt raus, dass meist Männer die Täter sind?

Bei sexuellem Missbrauch sind etwa 90 Prozent der Täter Männer. Bei körperlicher Misshandlung ist das Verhältnis eher ausgeglichen. Und es gibt natürlich auch emotionale Misshandlung: permanente Erniedrigung als Teil des Erziehungsstils.

Ist den Tätern eigentlich klar, was sie tun?

Die Gesellschaft hat sich verändert, es gibt ein größeres Bewusstsein für die Thematik. Mittlerweile ist es schon so, dass die meisten Verursacher wissen, dass das, was sie gemacht haben, falsch war. Aber viele sind hilflos, sie haben es in ihrer Kindheit nicht anders gelernt und geben es weiter. Und Frauen, die in solche Situationen involviert sind, haben oft selbst häusliche Gewalt durch den Partner erlebt. Ihnen fällt es dann teilweise schwerer, ihre Kinder zu schützen oder die Probleme zu sehen.

Je nachdem, mit was für Vorfällen Sie konfrontiert werden: Wie schaffen Sie es, professionell bleiben?

Ich muss eine hohe Neutralität mitbringen. Dafür bin ich ausgebildet. Die Vorfälle sind häufig Symptome und Ausdruck einer generellen Belastung des Familiensystems. Viele Täter fühlen sich selbst als Opfer: keine Arbeit, wenig Geld, kleine Wohnung, um ein Beispiel zu bringen. In so eine Sicht muss ich mich einfinden können, um Wege für eine Verbesserung der Gesamtsituation zu entwickeln. Darum finde ich noch lange nicht gut, was jemand getan hat. Aber ich arbeite mit den Familien lösungs- und ressourcenorientiert, und dazu muss ich die Menschen verstehen, mit ihnen mitfühlen können – ohne mitzuleiden. Ich brauche den Blick von außen. Unser Fokus liegt auf Unterstützung.

Wie lange dauert es, bis Betroffene Hilfe bekommen?

Die Ärztliche Beratungsstelle kann als spezialisierte Fachstelle mit den Familien in ihren oft komplexen Situationen therapeutische Maßnahmen zeitnah durchführen oder empfehlen. So gelingt es rasch, eine Verbesserung der Gesamtlage der Familie zu erreichen und auch präventiv für die Betroffenen und weitere Familienmitglieder tätig zu sein. Therapieangebote sind ohne lange Wartezeiten möglich.

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