Siegen. Beschimpft werden: Für viele Beschäftigte der Kinderklinik Siegen mittlerweile Alltag. Sie müssen sich einiges anhören. Und wünschen sich Respekt

Mittlerweile nahezu täglich, oft auch mehrmals täglich, müssen sich Beschäftigte der DRK-Kinderklinik, mit pöbelnden Angehörigen auseinandersetzen. Und nicht nur dort. Oft seien es nur Kleinigkeiten, wegen derer die Menschen ausfallend werden; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitunter auch bedrohen. „Ich würde mir wirklich mehr Verständnis wünschen“, sagt die Medizinische Fachangestellte Lisa Macht. Die ganze Belegschaft wünscht sich mehr Respekt.

Pforte: Coronabedingt gibt es vor dem eigentlichen Empfang der Kinderklinik eine Einlasskontrolle, als zusätzlichen Puffer, dass nicht jeder einfach so in das Krankenhaus spazieren kann. Stress herrscht da immer, sagt die studentische Mitarbeiterin. „Aber die Leute werden immer verrückter.“ Nur eine Begleitperson darf derzeit mit rein, um auf Station zu kommen, braucht es einen aktuellen negativen Corona-Test. Im Haus gilt Maskenpflicht. „Das wollen viele nicht verstehen.“ Es kommt zu Diskussionen, Beschimpfungen, man will die Vorgesetzten sprechen, „weil ich überhaupt nichts zu sagen hätte“ oder sich an die Presse wenden. Das ist respektlos, findet die junge Frau.

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„Wir hatten schon einen Vater, der die Polizei gerufen hat, um sich Einlass zu verschaffen“, sagt Thomas Pospich, Betriebsleiter der Varius GmbH, die die Pforte der Kinderklinik betreut. Mutter und Kind waren bereits drin – die Beamten zogen umgehend wieder ab. „Der hat nur uns und sich selbst gestresst“, sagt Pospich.

Vater ruft für Sohn Rettungswagen nach Siegen, damit der nicht das Auto vollkotzt

Telefonzentrale: „Viele sind schon unfreundlich, ohne dass überhaupt was passiert ist“, sagt Daniel Garth. Er arbeitet in der Telefonzentrale der Kinderklinik, bei ihm landen alle Anrufe – und Pöbeleien sind auch für ihn inzwischen tägliches Geschäft, „in jeder Schicht habe ich mindestens einen, der so ist“. Viele zum Beispiel wollen mit einem Arzt verbunden werden, erzählt er. „Das dürfen wir überhaupt nicht“, aber viele Anrufer würden direkt ungehalten. Sie haben kein Verständnis, dass man nicht mal eben den Chefarzt für irgendjemanden für irgendeine Auskunft ans Telefon holen kann. „Die Tür unserer Notfallambulanz steht immer offen!“, betont Garth.

Daniel Garth in der Telefonzentrale der DRK-Kinderklinik Siegen: „Viele sind schon unfreundlich, ohne dass überhaupt etwas passiert ist.“
Daniel Garth in der Telefonzentrale der DRK-Kinderklinik Siegen: „Viele sind schon unfreundlich, ohne dass überhaupt etwas passiert ist.“ © DRK-Kinderklinik Siegen gGmbH

Thomas Pospich erzählt von einer Mutter, deren Kind sich an zwei Tagen erbrochen hatte, sie wollte unbedingt einen Arzt sprechen. Als das nicht ging, „hat sie die Kollegin übel beleidigt und bedroht; dass sie rauskriegt wer wir sind und wo wir wohnen.“ Die Frau war fix und fertig, sagt Pospich, sie nahm sich diese Wutattacke sehr zu Herzen. Bei einem Vater, der für seinen Sohn einen Krankenwagen nach Wittgenstein gerufen hatte, stellte sich heraus, dass der Mann nur vermeiden wollte, dass der nicht ernstlich kranke Junge ihm das Auto vollkotzt. Und war ganz erbost, dass der Krankenwagen den Sohn nach Behandlung in Siegen nicht wieder zurück nach Wittgenstein fuhr.

DRK-Kinderklinik Siegen macht die Regeln nicht – Angehörige diskutieren, rasten aus

Empfang: MFA Lisa Macht nimmt die kleinen Patienten nach der Pforte in Empfang. „In den letzten Wochen hat es sich verschlimmert“, ist ihr Eindruck; noch stärker, als es während der Corona-Zeit ohnehin schon der Fall war. Die DRK-Kinderklinik macht die Corona-Regeln nicht, sie hält sich nur daran; muss sich daran halten. Ein Elternteil darf mit ins Krankenhaus – und dann fängt es schon damit an, dass sich viele Väter – meist sind es die Väter – heimlich irgendwie in die Klinik schleichen.

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Andere versuchen zu diskutieren, rasten schnell aus, erzählt Lisa Macht. „Bei einem Vater musste die Polizei kommen“, erzählt sie – Mutter und Kind waren auf Station, dass er nicht mit hineindurfte habe man ihm angeblich nicht gesagt. Er schubste die Mitarbeiterin an der Einlasskontrolle weg, bedrängte Lisa Macht, beleidigte sie. „Ich dachte, der würde mich angreifen", sagt sie, so nah sei der Mann ihr gekommen. Sie sei wirklich erschrocken gewesen. Noch im vergangenen Jahr sei ein anderer Vater hereingestürmt, ignorierte die Einlasskontrolle. „Das Kind war fast gar nicht krank“, erinnert sich Lisa Macht. Dennoch warf der Mann ihr vor: „Finden sie es toll, dass Sie mein Kind hier sterben lassen?“

Mutter beschwert sich: Sohn hat Ohrenschmerzen - Ärzte kämpfen um Leben eines Babys

Pflege und Reinigung: Ein Fall hat Lisa Macht wirklich schockiert: Auf Station kämpfte das Team um das Leben eines Säuglings, der reanimiert werden musste. Im Zimmer daneben warteten ein Jugendlicher mit Ohrenschmerzen und seine Mutter. Plötzlich stand die Mutter hinter den Ärzten und Pflegekräften: Wo denn der Arzt bleibe, ihr Sohn habe Schmerzen. Sie erklärten ihr, dass gerade das Leben des Babys wichtiger war, die Mutter ging – und stand wenig später wieder da und beschwerte sich, wann denn endlich der Arzt kommt. „In so einer schlimmen Situation, in der ich eigentlich sowieso schon heulen musste, auch noch freundlich bleiben“, sagt Lisa Macht – das sei ihr wirklich, wirklich schwer gefallen.

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Auf der Eltern-Kind-Station werden meist die Mütter mit aufgenommen, zusätzlich zum kranken Kind. Sie sind keine Patientinnen, manche benehmen sich aber wie Hotelgäste. Sie verlangen von den Reinigungskräften, die in der Kinderklinik eng mit den medizinischen Teams zusammenarbeiten, täglich neue Bettwäsche, fordern Kaffee oder Wasser ans Bett, während sie dort – kerngesund – mit dem Handy spielen oder beschweren sich, dass sie das Essen selbst aus der Kantine holen müssen.

Beobachtung der Siegener Kinderklinik: Eltern zunehmend unbeholfen bei krankem Kind

Eltern seien zunehmend unbeholfen, wenn Kinder krank sind, hat Lisa Macht beobachtet. Die Kompetenz zur Selbsthilfe sinkt, die Hemmschwelle, ein Krankenhaus ins Anspruch zu nehmen, genauso. „Mindestens 70 Prozent der Notfälle sind keine Notfälle“, schätzt sie. Wegen Kleinigkeiten, die sich mit Ruhe und Hausmitteln kurieren ließen, fahren manche Eltern schon ins Krankenhaus. „Die rufen schon an, wenn das Kind 38,4 Grad Temperatur hat und pumpen es mit allem möglichen voll“, bestätigt Daniel Garth. Die Eltern, deren Kindern es wirklich schlecht geht, seien eigentlich immer sehr, sehr nett, sagt die Pforte-Mitarbeiterin.

Auch das ist Alltag

Auch junge Patienten können das Klinikpersonal schwer auf Trab halten. Ein Mädchen, obdachlos und psychisch auffällig, kam immer wieder, teils aus eigenem Antrieb, teils wurde sie hergebracht, schildert die leitende Medizinische Fachangestellte Alina Weber.

Sie schloss sich unter anderem ins Klo ein, warf Möbel um, turnte über den Empfangstresen – eine regelmäßige Ausnahmesituation im Klinik-Alltag.

Andere sind im Grunde faul. Sie wollen Wartezeit beim Kinderarzt vermeiden und fahren deshalb zur Kinderklinik, bevor sie zur Arbeit müssen; können oder wollen sich nicht die nötige Zeit für ihr krankes Kind nehmen – und werden dann ungehalten, wenn es ihnen nicht schnell genug geht. Bei vielen Kinderärzten gebe es aber auch Aufnahmestopps, weiß Pressesprecher Arnd Dickel – der Fachärztemangel. Oder viele Eltern würden das System gar nicht richtig kennen.

In der DRK-Kinderklinik Siegen wird triagiert – die dringlichen Fälle zuerst

Corona hat die Ichbezogenheit vieler Menschen verstärkt. Sie lehnen Maßnahmen wie Maskenpflicht ab, wollen sie nicht akzeptieren, steigern sich in ihre Wut und Ablehnung hinein – „wir machen die Regeln aber nicht“, betont Lisa Macht.

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Die Abläufe in der Kinderklinik sind hoch komplex, wie in jedem Krankenhaus. Für Außenstehende fast unmöglich auf Anhieb zu durchschauen – aber sie wissen sehr genau, was sie tun, auf dem Wellersberg und in jeder anderen Klinik auch. Die Rettungsfahrzeuge (RTW) mit den Notfällen fahren von hinten ans Gebäude heran, Akutfälle kommen durch den Haupteingang. Vielen Wartenden fehlt schnell das Verständnis: In der Kinderklinik wird triagiert – die schweren Fälle zuerst, Ohrenschmerzen müssen dann auch Mal länger warten. Besonders nachts, wenn nur ein diensthabender Arzt für die ganze Klinik zuständig ist. „Die Leute denken dann, andere werden vorgezogen und dann werden wir beschimpft, warum jemand anderes vor ihnen drangekommen ist“, sagt Lisa Macht. „Aber es geht um Dringlichkeit. Viele denken, ihr eigenes Kind ist gerade das Wichtigste.“ Die Kinderklinik hat sich solche Systeme nicht ausgedacht, sagt Arnd Dickel – sie kommen europaweit zum Einsatz. Überall im Krankenhaus wird durchgearbeitet, „hier sitzt keiner rum und wartet auf den nächsten RTW.“

Das Team der DRK-Kinderklinik Siegen hilft und unterstützt sich gegenseitig

Die Kinderklinik plant vor diesem Hintergrund unter anderem Deeskalationstrainings, damit häufig betroffene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit solchen Vorfällen souveräner umgehen und sie nachher besser verarbeiten können. Auch in der Ausbildung könnte das zum Thema werden, findet Lisa Macht.

Natürlich rege sie sich in solchen Fällen auch auf, sagt sie, sei schockiert, erschrocken. Ruhig bleiben, tief durchatmen, „das kann ich inzwischen ganz gut. Man wird stärker, kann besser argumentieren“, sagt die Medizinische Fachangestellte. „Am Anfang habe ich noch mit denen geredet“, sagt Daniel Garth, inzwischen ist er schnell mit solchen Kandidaten fertig. „Manche rufen immer wieder an.“

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Das Team hilft – sie stehen sich in der Kinderklinik gegenseitig bei, während und nach solchen Vorfällen. „Wir sprechen darüber, das gibt ganz viel Halt“, sagt Lisa Macht. Nachts, wenn sie alleine an der Pforte sind, wird das schonmal schwieriger. „Manchmal ist es super schwer, freundlich und kompetent zu bleiben“, sagt sie – „aber das kriegen hier wirklich alle hin.“