Siegen. Diskussion um Nazi-belastete Straßennamen: Die Stadt Siegen will den Aufwand für die Betroffenen möglichst gering halten. Und so läuft das ab.

Etwa seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dienen Straßennamen zunehmend der Erinnerung und Ehrung verdienter Persönlichkeiten. Bis dahin hatten sie ausschließlich der Orientierung gedient, waren auch nicht wirklich verbindlich festgehalten und änderten sich durchaus häufiger, erklärte Stadtarchivar Dr. Patrick Sturm bei der Bürgerinformationsveranstaltung zu einer möglichen Umbenennung Siegener Straßen (wir berichteten).

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„Der Straßennamenkorpus ist nicht das historische Gedächtnis einer Stadt“, betonte Sturm – denn es gab zum Beispiel immer wieder auch bewusst vergessene Personen. Oder Bevölkerungsgruppen, wie Frauen. Die sind, undemokratischerweise, bei den Straßennamen nicht nur in Siegen deutlich unterrepräsentiert. Eine Straße nach einer Person zu benennen, ist eine hohe Ehre, aber nicht statisch, weil neue Erkenntnisse – wie bei den in Siegen diskutierten Nationalsozialistenund Antisemiten – die Ehrungswürdigkeit in Frage stellen können. Beliebig austauschbar ist ein Straßenname aber auch nicht, so Sturm. Eine Umbenennung tilge unbequeme Momente nicht aus der Geschichte, „die Historie lässt sich dadurch nicht hinwegwischen.“

Ferdinand Porsche: Siegen hätte es schon in den 70er Jahren besser wissen können

Eine kommentierende Zusatzbeschilderung unter Straßenschildern sei oft nicht geeignet, den Ehrungscharakter einzuschränken, betonte Sturm – zu schlecht sei dies wahrnehmbar, im Alltag überwiege die Orientierungsfunktion des Straßennamens vor der historischen Aufklärung. Bürgermeister Steffen Mues gab zu, dass er sich bisher nicht zu einer Entscheidung habe durchringen können, „ein extrem schwieriges Thema“. Er habe zunächst gehofft, dass sich eine andere Lösung wie eine Zusatzbeschilderung ergeben könnte – diese Hoffnung schwinde mehr und mehr. „Es ist extrem schwierig, sich im Vorbeifahren mit der Vergangenheit einer Person zu beschäftigen.“

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Warum jetzt die Diskussion? „Die Aufarbeitung der NS-Zeit setzt in Deutschland mit Verspätung ein“, so der Archivar. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte demnach ein kollektives Verdrängen der Nazizeit ein – heute, nach Jahrzehnten, sei aber ein entsprechender Status der Aufarbeitung und Auseinandersetzung erreicht. „Wir leben in einer Zeitenwende“, sagte Raimund Hellwig, der Vorsitzende des Arbeitskreises Straßennamen – es gebe keine lebenden Zeitzeugen mehr, die die Nazizeit als Erwachsene miterlebt hätten. Das bestätigte unter anderem ein Anwohner des Schießbergs: Noch in den 1960er und 70er Jahren sei über Nazi-Verbrechen an Schulen schlicht nicht gesprochen worden, „ich musste selbst nach Bergen-Belsen fahren, um einen Eindruck zu bekommen.“ Arbeitskreis-Mitglied Martin Heilmann bestätigte: Als die Porschestraße in den 70er Jahren benannt wurde, „hätte man es besser wissen können“. Aber in der Bundesrepublik wollte man zur Geschichte des Autokonstrukteurs auch 30 Jahre nach Kriegsende lieber nicht so genau hinschauen.

Stadt Siegen will Servicepaket für betroffene Anlieger schnüren

Die Abteilung für Vermessung und Geoinformation ist für die praktische Umsetzung einer Umbenennung zuständig, so sie denn politisch beschlossen wird. Straßennamen haben keinen Bestandsschutz, eine Anhörung der Anwohnerschaft ist explizit nicht vorgesehen, berichtete Abteilungsleiter Andreas Becher – als Teil der kommunalen Selbstverwaltung entscheidet der Rat, nicht die Betroffenen. Sei daraus folgend eine Umbenennung im Interesse der Allgemeinheit, müssen Anlieger die Umbenennung „ertragen“.

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Die Umbenennung wird öffentlich bekanntgemacht und damit als Allgemeinverfügung rechtswirksam. Alle Anlieger werden angeschrieben und über ihre neue Adresse informiert. „Sie können nicht klagen, wir teilen das nur mit“, erklärte Becher. Die Stadt informiert das Finanzamt, Ver- und Entsorger, Hersteller von Navigationsgeräten und deren Software, Feuerwehr, Stadtreinigung, Rentenversicherung.

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Den Anwohnern bleibt es, ihre neue Adresse den privaten und geschäftlichen Verbindungen mitzuteilen, so Becher. Der Personalausweis muss bei der Stadt geändert werden, die in diesem Fall (den Beschluss vorausgesetzt) zusichert, dass das kostenfrei und bevorzugt abgewickelt werde, um den Aufwand möglichst klein zu halten. Beim Kreis müssen Betroffene zudem den Kfz-Zulassungsschein ändern lassen, was 12 Euro kostet. Andere Papiere wie etwa der Führerschein benötigten keine aktuelle Anschrift.