Siegen. Antisemiten, Nazi-Funktionäre, KZ-Sklavenhalter: Darum wird die Umbenennung von sieben Siegener Straßen empfohlen. Alternativen: verdiente Frauen
Die Diskussion, die Siegen nun bevorsteht, haben andere Städte längst geführt – oder tun es noch. Hagen zum Beispiel hat seit mehr als 10 Jahren keine Carl-Diem-Straße mehr, das brandenburgische Brieselang will die Adolf-Stöcker-Straße umbenennen, Bochum und Bielefeld haben das bereits getan. Um nach Paul von Hindenburg benannte Straßen und Plätzen wird in vielen deutschen Städten diskutiert.
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In Siegen steht das nun auch an: Sieben Personen hat ein Arbeitskreis nach langer Prüfung als schwer belastet aus der Nazizeit identifiziert; zu verstrickt ins mörderische Regime oder seine menschenverachtende Ideologie, als man sie mit mit einer Straßenbenennung ehren sollte. Wer waren diese Menschen eigentlich?
Arbeitskreis: Diese Namen sind zu NS-belastet für Straßennamen in Siegen
Adolf Wagner (1835-1917), Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler. Führendes Mitglied des „Conservativen Central-Comites“, das sich zur antisemitischen Berliner Bewegung formierte. Mitglied in Adolf Stoeckers Christlich-Sozialer Partei und im preußischen Abgeordnetenhaus. Bewertung: „Parteigänger führender Antisemiten im Deutschen Reich, Wegbereiter des Nationalsozialismus“. Benennung: 1927.
Jakob Henrich (1862-1961), Pseudonym „Bergfrieder“: Lehrer, Heimatautor, und -forscher. Politisch in mehreren Parteien aktiv, Publikationen in „Das Volk“, Nähe zu Adolf Stoecker. Bewertung: „Extremer Antisemit, verbreitete sein aggressiv antisemitisches Gedankengut über Jahre hinweg über Publikationen in der Gesellschaft Behielt nach dem Zweiten Weltkrieg diese Ansichten bei, keine Reue oder Selbstreflektion erkennbar“. Benennung: 1957.
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Carl Diem (1882-1962): Sportfunktionär, Träger des Olympischen Ordens und des großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik, Gründer der Deutschen Sporthochschule Köln. Weigerte sich 1933 in die NSDAP einzutreten und verlor Ämter, von den Nazis als „politisch unzuverlässig“ eingestuft. Wirkte dennoch maßgeblich an NS-Propaganda mit, spornte gegen Kriegsende Hitlerjungen zum „Opfergang für den Führer“ an – mehrere hundert Jugendliche starben sinnlos im Kampf gegen sowjetische Panzer. Bewertung: „Förderte den NS-Staat und unterstützte maßgeblich dessen Propaganda. In führender Position an Gleichschaltung von Verbänden und Etablierung des Führerprinzips beteiligt.“ Benennung: 1975.
Paul von Hindenburg (1847): General im Ersten Weltkrieg, Chef der Obersten Heeresleitung (OHL), Reichspräsident der Weimarer Republik. Nach dem Krieg Vertreter der „Dolchstoßlegende“, rechtsnationale Betätigung, Monarchist und Antiparlamentarier. Destabilisierte den Reichstag als Präsident durch Mehrfach-Auflösung, ernannte 1933 Hitler selbstbestimmt und bei klarem Verstand zum Reichskanzler, stimmte unter anderem dem Ermächtigungsgesetz zu. Bewertete die NS-Diktatur in seinem Testament positiv. Bewertung: „Nicht alleiniger Steigbügelhalter Hitlers, bereitete aber Grundlagen zum Aufstieg der Nazis“. Benennung: 1915.
Lothar Irle (1905-1974): Lehrer, NS-Funktionär, Heimatforscher. Mitglied in NSDAP und SA, verbreitete in hoher Funktion beim NS-Lehrerbund dessen Ideologie. Nach Krieg und Entnazifizierung vom Lehrberuf ausgeschlossen, engagiert in SGV und Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein. Bewertung: „Aus Sicht der NS-Elite politisch besonders zuverlässig, besondere Identifikation mit Regime und Führer, nicht nur Mitläufer. Propagandist, Antisemit, Antidemokrat. Behielt seine Denkmuster bei, zeigte nie Reue.“ Benennung: 1975.
Ferdinand Porsche (1875-1951): Autokonstrukteur, Gründer der Firma Porsche. Wurde 1934 auf Drängen Hitlers Deutscher. Ab 1937 NSDAP-Mitglied, ab 1942 ehrenhalber in der SS. Ab 1939 Wehrwirtschaftsführer, engagierte sich intensiv in Kriegs- und Rüstungsindustrie. Für sein Werk forderte er bei der SS KZ-Häftlinge als Arbeitssklaven an, unter anderem um die „Vergeltungswaffe“ V1 zu bauen, dafür wurde eigens ein KZ gebaut. Wusste auch von mehreren hundert toten Säuglingen und Kindern in diesem Zusammenhang. Persönliche Kontakte zu Hitler und Himmler. Bewertung: „Maßgeblich am Aufbau deutscher Rüstungsindustrie beteiligt, im Dienst des NS-Staats, nutzte Kontakte zu hohen Nazis für sein persönliches Fortkommen. ‘Pionier’ der industriellen Verwendung der KZ-Häftlingsarbeit.“ Benennung: 1975.
Adolf Stoecker (1835): Theologe, Pfarrer, Prediger, Politiker. Gründer der Christlichsozialen Arbeiterpartei, antisemitischer Agitator, Feind der Sozialdemokratie. Mitglied im preußischen Abgeordnetenhaus, später im Reichstag. Bewertung: „Wegbereiter des Antisemitismus, hetzte gegen das Judentum, entscheidender Anteil an Formierung einer organisierten antisemitischen Bewegung, machte Antisemitismus in breiten Kreisen gesellschaftsfähig. Wegbereiter für völkische Rechte und der Nationalsozialisten“ Benennung: 1927.
Arbeitskreis: Diese Frauen sind geeignet, in Siegen Straßen nach ihnen zu benennen
Der Arbeitskreis hatte wie berichtet auch die Aufgabe, den Bürgerantrag „Präsenz von Frauen im Siegener Stadtgebiet“ zu bearbeiten. Einige Namen wurden als ehrungswürdig erachtet, zudem wird aber empfohlen, sich mit weiteren Frauengruppen aus der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Siegen näher zu beschäftigten – den „Erzengeln“ beispielsweise, die Frauen, die in den Eisenerzgruben die Erzbrocken sortierten; die Zwangsarbeiterinnen während des Zweiten Weltkriegs aus der Tschechoslowakei, Russland, der Ukraine; die Helferinnen im Zentralen Durchgangslager auf dem Wellersberg.
Emmi Braun (1887-1967): Kommunalpolitikerin, eine der ersten Frauen überhaupt in der Stadtverordnetenversammlung.
Charlotte Dresler (1784-1853): Mitgründerin des Evangelischen Frauenvereins in Siegen, der im Verlauf der Industrialisierung arme Frauen unterstützte.
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Frieda Dresler (1814-1866): Tochter Charlotte Dreslers, Präsidentin des Ev. Frauenvereins, Gründerin einer Nähschule und von Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder. Verbesserte die Lebensbedingungen von Frauen in der Industrialisierung.
Hilde Fiedler (1919-20211): Erste Bürgermeisterin Siegens – „ein Meilenstein der Stadtgeschichte“, so der Arbeitskreis – Würdigung als erste Frau in dieser Position.
Therese Giehse (1898-1975): Engagierte sich gegen die Nazis, absolvierte ihre ersten Auftritte als Schauspielerin in Siegen.
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Hedwig Heinzerling (1882-1973): Langjährige Stadtverordnete, Gründungsmitglied der Orts-FDP, eine der ersten weiblichen Mandatsträgerinnen, Verdienste im Schul- und Bildungswesen.
Anna Cäcilia Wilhelmine Hellmann (1869-1957): Abgeordnete der Zentrumspartei in der Stadtverordnetenversammlung, eine der ersten Frauen in dieser Funktion. Verantwortliche Positionen in katholischen Vereinen.
Dina Herter (1883-1969): Stiftungsgründerin, schuf damit ein bedeutendes Sozialwerk für ältere Menschen in Siegen.
Elisabeth Köhne (1895-1985): Verdienste im Kulturbereich.
Margarethe Lenz (1899-1986): Engagiert für Frauenrechte, floh vor den Nazis ins Ausland, dritte Frau überhaupt, der der Rang einer Konsulin in Linz verliehen wurde.
Charlotte Petersen (1904-1994): Nazi-Gegnerin, setzte sich für Opfer des KZ Wapniarka ein. Dillenburg verleiht die Charlotte-Petersen-Medaille.
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Helge Pross (1927-1984): Pionierin der Frauen- und Geschlechterforschung an der Uni Siegen.
Maria Rubens (1538-1608): Mutter von Peter Paul Rubens – sorgte unter schwierigsten Umständen für das Überleben der Familie und die Freilassung ihres Mannes. Sonst wäre Peter Paul Rubens nicht in Siegen geboren worden.
Juliane von Wernigerode-Stolberg (1506-1580): Historische Figur des Hauses Nassau-Oranien, Einfluss auf die territoriale Entwicklung.