Siegen. Es brodelt von Anfang an bei der Informationsrunde zu Nazi-belasteten Straßennamen in Siegen. Irgendwann platzt dem Bürgermeister der Kragen.

Von Beginn an war die Stimmung gereizt. Viele Anwohnerinnen und Anwohner, die am Dienstagabend, 13. September, zur Bürgerinformationsveranstaltung in der Bismarckhalle gekommen waren, ließen keinen Zweifel daran, dass sie keine Umbenennung ihrer Straße wollen, ob sie nun nach Nazis, Antisemiten oder sonstwem benannt seien. Manchem Historiker im Publikum klingelten bei manchen Wortbeiträgen die Ohren, während sich manche Stadtverordnete mit kundgetaner Meinung aufmunitionierten für die anstehende Ratsdebatte. „Es geht nicht um Schilder aus Metall, sondern darum, womit wir uns als Stadt identifizieren“, sagte Bürgermeister Steffen Mues zu Beginn. Straßennamen seien eine der höchsten Ehrungen – und dies geschehe im jeweiligen Zeitgeist. Der könne sich ändern.

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Verwaltung und Arbeitskreis mussten nach einer Stunde erkennen, dass das von ihnen geplante Format so fehlschlagen würde. Stadtarchivar Dr. Patrick Sturm hatte sein Fachreferat über die Praxis von Straßenbenennung und Erinnerungskultur in Deutschland noch nicht richtig begonnen, als er das erste Mal harsch gemaßregelt wurde: „Mikro!“ Der Ton war gesetzt, Grummeln und Zwischenrufe schwollen an. Raimund Hellwig, Vorsitzender des Arbeitskreises zur Straßenumbenennung, und die weiteren Mitglieder Martin Heilmann (Grüne) und Erik Dietrich (Volt), mussten bald einsehen, dass ihre Vorträge zu den sieben belasteten Personen in dieser Tiefe nicht auf ungeteiltes Interesse stießen. Zahlreiche Betroffene wollten ihrem Unmut Luft machen. „Zu viel Vorträge“ murmelte nicht nur eine Zuschauerin ganz hinten erbost.

Siegener Lothar Irle war kein Mitläufer, sondern strammer Nazi-Funktionär

Meinungen, dass Dr. Lothar Irle kein strammer Nazi-Funktionär sondern nur ein Mitläufer war, oder dass der SPD-Stadtverordnete Klaus Eckhardt kundtat, Jakob Henrich, Pseudonym „Bergfrieder“, sei kein glühender Antisemit gewesen sondern „ein ganz integrer Mann“, sollen an dieser Stelle nicht vertieft werden. Und während Martin Heilmann schilderte, wie von Ferdinand Porsche angeforderte Zwangsarbeiterinnen entweder zur Abtreibung gezwungen oder ihnen ihre Kinder nach der Geburt weggenommen wurden – alle Säuglinge starben –, beugte sich ein alter Mann zu seiner Frau und flüsterte: „Was sollte er machen, es gab ja keine anderen Arbeitskräfte.“

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Lothar Irle habe viel getan, mit dem er sich eine große Fangemeinde geschaffen hat, sagte Raimund Hellwig. Und zu Jakob Henrich: „Wer über Jahrzehnte gegen Juden hetzt – was ist daran ehrungswürdig?“ Bürgermeister Steffen Mues bemühte sich um Einordnung: Die Stadt werde keine Gebühren erheben für die Adressänderung im Personalausweis und sich um ein Servicepaket für Betroffene bemühen, zumal sich jährlich 7500 Menschen in Siegen ummelden. „Das sollte kein Hauptargument gegen eine Straßenumbenennung sein.“ Es handle sich um eine Ehrung, die im historischen Kontext betrachtet werden müsse – und eine Umbenennung, wenn diese nicht mehr in die freiheitlich-demokratische Grundordnung passe, sei keine Tilgung aus der Geschichte.

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Anwohner bringen Umwidmung der Siegener Stöckerstraße ins Spiel

Andere bemühten sich um konstruktive Lösungen in ihrem Sinne. Er wolle die Lebensläufe, die Taten nicht in Abrede stellen, sagte ein Anwohner der Stöckerstraße – aber er habe gar nicht gewusst wer Adolf Stoecker sei. Auch bei Porsche denke er nicht zuerst an den NS-belasteten Industriellen, sondern an Autos. Eine Frau verwies auf die Schreibung – Adolf Stoecker, Stöckerstraße? Schreibweisen verändern sich, die Benennung nach dem Wegbereiter des Antisemitismus sei klar belegt, so Martin Heilmann.

Bergfriederstraße in Siegen, benannt nach Jakob Henrich: „Wer über Jahrzehnte gegen Juden hetzt – was ist daran ehrungswürdig?“
Bergfriederstraße in Siegen, benannt nach Jakob Henrich: „Wer über Jahrzehnte gegen Juden hetzt – was ist daran ehrungswürdig?“ © Jürgen Schade

Ein anderer erkundigte sich nach einer durchaus realistischen Umwidmung der Stöckerstraße. Er sei dort aufgewachsen, lebe nach wie vor dort, schilderte der 31-Jährige, „ich verbinde viel mehr damit als nur den Namen“. Diese Straße sei seine Heimat, „Stöckerstraße“ sei in Siegen positiv besetzt als kinderfreundliche, nette Gegend. Er würde eine Umwidmung nach der Frauenrechtlerin Helene Stöcker sehr begrüßen und die Stadt dabei gern unterstützen. „Charmanter Gedanke“, fand Martin Heilmann. „Wir können bei den meisten Namen sehr gut nachvollziehen, warum und nach wem sie benannt sind“, so der Bürgermeister. Er habe sich in der Tat aber bei der Porschestraße auch zuerst gefragt: „Wieso Porsche?“

Vorwürfe an Politik, Bürgermeister platzt Kragen: „Ungebührlich, unpassend, verletzend“

Andere fanden es nicht richtig, dass nur Namen aus dem Nazi-Kontext zur Debatte stehen: „Ist Schlimmes nur dann schlimm, wenn es in der NS-Zeit passiert ist?“ Wenn das gleiche 100 Jahre früher passiert sei, sei das also fast egal? Einer fragte nach der Intention des Abends: „Sollen wir nur ein schlechtes Gewissen bekommen?“ Hier versuche offenbar eine Minderheit, die Meinung entsprechend zu drehen. Steffen Mues verwies auf die repräsentative Demokratie: Hier werde die Anwohnerschaft beteiligt, ihre Meinung gehört, die Entscheidung treffen dann die gewählten Stadtverordneten.

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Erbost reagierte der Bürgermeister auf den auch im Vorfeld häufiger geäußerten Vorwurf „Haben die nichts anderes zu tun?“ – „Ausgesprochen ungebührlich und völlig unpassend“, fand Mues. Die Vergangenheit aufzuarbeiten, zu erinnern, bleibe in Deutschland eine wichtige Aufgabe, „da können noch so viele Leute sagen, irgendwann müsse Schluss sein“. Zudem werde in verletzender Weise suggeriert, der Rat läge nur auf der faulen Haut, tue nichts – das Gegenteil sei der Fall. „Ich bin froh und dankbar, dass es Menschen gibt, die sich ehrenamtlich mit hochkomplexen Themen beschäftigen und sich für ihre Stadt engagieren.“ Der kommunalpolitische Zeitaufwand sei sehr hoch. Der Redner relativierte: Er habe nur eine kursierende Meinung wiedergeben wollen.

Eine Frau brachte es auf den Punkt: Wer weiß, was in 50 Jahren diskutiert werde. „Warum nimmt man nicht einfach Blumen oder Tiere?“