Siegen. Eine vernünftige Diskussion über Straßennamen findet in Siegen kaum statt – jetzt ist ein Anfang gemacht. Welches Zeichen setzt ein Straßenname?
Die Diskussion um belastete Straßennamen wird in Siegen bisher kaum geführt. Erinnerungskultur zeigt sich auch in der Benennung von Straßen und Plätzen, stellt Dr. Jens Aspelmeier am Donnerstagabend, 5. Mai, in der Martinikirche fest. Der Historiker und Vorstand des Aktiven Museums Südwestfalen moderiert ein Dialogforum, das die Debatte in die Öffentlichkeit holen soll.
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Dass die Stadt nach wie vor Antisemiten ehrt, indem sie nach ihnen benannte Straßen eben nicht umbenennt – dafür brauche es die öffentliche Debatte, meinen die Diskutanten. Die hohe Teilnehmerzahl zeigt: Das Interesse dafür ist da.
Rassenkundler, Mitglied von NSDAP und SA auf Siegener Straßenschild
Dr. Lothar Irle, 1905 bis 1974, war ein bekennender Antisemit und gläubiger Nationalsozialist. Das legt Kreisarchivar Thomas Wolf anhand gut gesicherter Quellen noch einmal dar. Eine durchaus typische Nazikarriere: Ausbildung zum Volksschullehrer, nicht übernommen, weiteres Studium mit „eher durchschnittlicher“ Promotion, ab 1933 dann doch im Schuldienst, in Eiserfeld und Kreuztal. Der 1931 in die NSDAP eingetretene Irle machte ab 1933 Karriere, auch im NS-Lehrerbund und in der SA, brachte es bis zum Dozenten für Rassenkunde in Dortmund, war dann während des Zweiten Weltkriegs beim Militär. Nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1947 engagierte sich Irle wieder im SGV und im Heimat- und Geschichtsverein, was er auch zuvor bereits getan hatte. In den Schuldienst durfte er nicht wieder zurückkehren, er arbeitete dann als Versicherungsvertreter in Kreuztal. Seit den 1920er Jahren hatte Irle publiziert, früh Hitler und die „Kampfzeit“ der Nazis glorifiziert, gegen „weibische Männer“ und „Weiber mit Mannsgebaren“ agitiert, die „Reinheit deutschen Blutes“ propagiert.
Jakob Henrich, 1862 bis 1961, wuchs in ärmlichsten Verhältnissen auf, arbeitete als Lehrer, zuletzt an der Volksschule in Krombach, wo heute eine Straße seinen Namen trägt. 1893 engagierte er sich im Wahlkampf für den Antisemiten Adolf Stoecker, war bis 1941 Kolumnist für „Das Volk“, Stoeckers „Parteiorgan“. Darin, legt Thomas Wolf dar, hetzte Henrich gegen Juden, zeichnete das Irrbild eines Parasiten-Volks: „Er war schlicht und ergreifend Antisemit.“
Adolf Stoecker: Vordenker des Antisemitismus, Hetzer, Menschenfeind
Adolf Stoecker, 1835 bis 1909, war kein Siegerländer: Der Theologe wurde durch spektakuläre Wahlkämpfe in Berlin bekannt, skizziert Jens Aspelmeier – er bekämpfte die Sozialdemokratie, wollte die Arbeiterschaft für Kirche und Kaiser gewinnen, den angeblichen jüdischen Einfluss in der Gesellschaft zurückdrängen. „Er hat entscheidend dazu beigetragen, Antisemitismus salonfähig zu machen“, so der Historiker. Nach Stationen als Hauslehrer, Gemeinde- und Divisionspfarrer schaffte es der wortgewaltige Stoecker, zum vierten Hofprediger am Berliner Dom aufzusteigen, musste von diesem Amt 1890 aber aufgrund seiner „brisanten Agitationen“ zurücktreten – die Kirche sah sich genötigt, sich von Stoecker zu distanzieren. Bei einem Vortrag in Siegen begeisterte er die Massen derart, dass er als Reichstagskandidat aufstellten.
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Adolf Stoecker hetzte gegen Juden wo er nur konnte, geißelte die Gefahr für das „deutsche Volksleben“, bezeichnete sie als „Krebsschaden“ – eine menschenfeindliche Ideologe, die die Nazis erst später aufgriffen. Als der Rosterberg in den 1920er Jahren erschlossen wurde, suchte man Sozialpolitiker als Namensgeber. Stoecker-Straßen gab es in Deutschland viele. Bochum benannte sie 2007 in Anne-Frank-Straße um, Bielefeld bereits 1987, so Aspelmeier. Die brandenburgische Gemeinde Brieselang stellte 2021 fest, wer Adolf Stoecker eigentlich war, positionierte sich schnell und eindeutig: Es bleibe kein anderer Schluss, als die Straße umzubenennen und darüber öffentlich zu diskutieren.
Ebenfalls zumindest nicht unbelastet sind die Namensgeber (Personen und Ereignisse) dieser Straßen: Paul von Hindenburg (Reichspräsident, ernannte Hitler zum Reichskanzler), Felix Graf von Luckner (NS-Mitläufer), Otto Krasa (Mitglied von NSDAP und SA) oder die Schlachten von Sedan und Tannenberg.
Siegener Historikerin: „Möchte ich in einer Stadt leben, die solche Menschen ehrt?“
Die Historikerin: Debatten um Straßennamen werden mit großer Emotionalität geführt, stellt Dr. Daniela Mysliwietz-Fleiß von der Universität Siegen fest – man sehe das an vielen Stellen im öffentlichen Raum. Es gehe um die Frage, wer eine Stadt gestaltet, wem dieser Raum „gehört“, wie sich die Bevölkerung diesen aneignet – und damit auch um Fragen der eigenen Identität. Die Menschen identifizieren sich mit ihrer Stadt und auch ihrer Straße, ohne die Hintergründe zu kennen. Der Prozess einer öffentlichen Debatte sei in Siegen „bisher nicht ganz so gut gelaufen“, sie wäre gerne angesprochen worden, um unterstützen zu können.
Einfach nur erläuternde Informationen unterm Straßenschild anzubringen, sei eher zu kurz gegriffen – auch dann habe eine Straßenbenennung ehrende Qualität für die namensgebende Person. „Möchte ich in einer Stadt leben, die durch Straßennamen solche Menschen ehrt?“ Das bestätigte Alon Sander aus dem Publikum: Messbarer Schaden entstehe ihm als Juden erst einmal nicht, wenn er durch die Stöcker-Straße gehe. Man müsse aber darüber reden, welche Zeichen eine Stadt setzt, welche Geschichte sie erzählt mit den Namen der Straßen, „in denen wir leben“.
„In Siegen und der Region kann man nicht über Straßennamen diskutieren“
Der Kommunikationsexperte: Über Friedrich Flick, Kreuztaler, Namensgeber des Gymnasiums, Unternehmer und Kriegsverbrecher, wurde in seiner Schulzeit zum Beispiel einfach nicht gesprochen, sagt Thorsten Junge. „Man kannte nur das Ölbild vor dem Sekretariat“ – es gab keine Diskussion, keinen Raum. „Man muss die Debatte weiter öffnen“, fordert er, den Menschen, auch und gerade Anwohnern, die Informationen geben, damit sie die Beweggründe nachvollziehen und selbst ein Urteil fällen können. Geschichte müsse im Alltag greifbar sein, wenn die Menschen erst selbst tief in die Archive einsteigen müssen, falle das zu schwer. „Ich sehe es in der Region nicht, dass man darüber diskutieren kann – diese Informationen müssen ans Licht.“ Dazu könne sich die Stadt etwa zuallererst anschauen, wie andere Kommunen das Thema handhaben.
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Der Lehrer: Er würde sich – neben mehr Erinnerungskultur an Schulen, was die Lehrpläne auch hergäben – eine aktivere Moderation seitens der Politik wünschen, sagt Michael Guse vom Aktiven Museum; dass sie sich nicht wegducke. Gerade dem Bürgermeister liege das Thema seiner Wahrnehmung nach am Herzen – dann wäre es schön, wenn das Thema nicht hinter verschlossenen Türen behandelt würde. Aktuell erstellt ein zweiter Arbeitskreis des Rates einen Bericht. „Und auch der öffentliche Raum kann politische Themen besetzen“, die Bürgerinnen und Bürger sich die eigene Stadt aneignen, hinsehen und hinterfragen. Es gehe bei diesen Namen und ihre Würdigung durch Straßenbenennung um Humanismus und Menschlichkeit – und Verstöße dagegen. „Wenn wir uns zu diesen Werten bekennen, passen diese Beispiele nicht“, so Guse mit Blick auf Irle, Stoecker, Henrich.
„Rassist ist Rassist“ – Verbrechen bleiben Verbrechen, unabhängig von Wahrnehmung
Geschichte und Werte unterlägen allerdings einem Wandel – womöglich werde der Name „Daimlerstraße“ in Jahrzehnten einmal unter Klimaschutzaspekten kritisch gesehen. „Wir haben die Weisheit nicht mit Löffeln für alle Zeit gefressen.“ Die Komplexität des Problems zeige sich etwa auch bei Richard Wagner: Der Komponist war Antisemit – kann man seine Musik davon trennen? „Ein Rassist ist ein Rassist. Dieses Verbrechen kann nicht anders wahrgenommen werden“, sagte dazu Werner Stettner aus dem Publikum.
Der Archivar: Straßenumbenennungen seien für die Politik nicht drängend, sagt Thomas Wolf. Oft sei, wenn es denn mal auf die Tagesordnung komme, die erste Reaktion „Haben die nichts anderes zu tun?“ In der Regel schlafe es dann auch schnell wieder ein – man könne sich aber hier die Zeit nehmen und Ressourcen nutzen, etwa ehrenamtliche Historiker.
Der Journalist: Das Thema gehöre in die Öffentlichkeit, fordert auch Christian Hoffmann, die Politik entscheide aber letztlich. Man dürfe dabei die Erinnerung nicht vergessen, brauche Kriterien, nach denen benannt werde – oder eben nicht. Solche könnten Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegstreiberei sein.