Brilon. Die Corona-Krise zementiert alte Rollenbilder. Eine Expertin aus Brilon erklärt, was getan werden kann, damit Gleichberechtigung fortbesteht.

Frauen stellen den größten Anteil der Pflegekräfte in Krankenhäusern und Heimen, leisten zugleich den größten Anteil an unbezahlter Care-Arbeit zuhause, kümmern sich um die Kinder, die im Lockdown nicht in die Schule oder Kita können. “Frauen erleiden eine entsetzliche Re-Traditionalisierung", ist die deutsche Soziologin Jutta Allmendinger überzeugt. Doch wie sieht die Situation im eher konservativen Sauerland aus? Die selbstständige VHS-Dozentin Jennifer Merkel (31) aus Brilon beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Feminismus und setzt sich für Geschlechtergerechtigkeit ein. Am 27. Januar berichtet sie in einem Online-Vortrag über die Dominanz- und Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation? Erleben wir gerade einen Rückschlag in Sachen Gleichberechtigung?

Jennifer Merkel: Die Pandemie ist eine Krise, die Frauen zum größten Teil stützen müssen. Frauen sind die Personen, die sich zum Großteil kümmern, sich sorgen, die deshalb unter der Pandemie jetzt besonders leiden. Frauen sind eher die Personen, die neben bezahlter Pflegearbeit in Krankenhäusern etc. auch die Fürsorgearbeit zuhause übernehmen. Deshalb wurde wahrscheinlich bei den Schulschließungen so lange gezögert, weil gerade die Pflegekräfte Frauen sind, die dann natürlich nicht zur Arbeit kommen können, weil sie die Kinder zuhause unbezahlt betreuen müssen. Jetzt haben wir die Schulschließung und die Frauen fallen aus dem System raus. Was ein großes Problem ist. Nicht nur finanziell, sondern auch gesellschaftlich.

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Aktuell ist es auch schwierig zu planen. Wann öffnen Kitas und Schulen wieder? Wie läuft das mit Kinderkranktagen? Was mache ich als Selbstständige? Auf Eltern lastet die Verantwortung, eine Entscheidung zu treffen: Schicke ich mein Kind während einer Pandemie zur Notbetreuung in die Kita? Oder vernachlässige ich meinen Beruf und bleibe zuhause?

Da wird von der Politik sehr viel auf die Privatpersonen - gerade eben auch auf die Frauen - abgewälzt. Was natürlich nicht in Ordnung ist. Es ist eine Krise für alle. Und am Ende wird durch diese Krise sichtbar, was eben im Vorfeld unsichtbar war: die ganze Pflegearbeit, die Frauen verrichtet haben, die einfach nicht gewürdigt wurde. Und die unbezahlte Arbeit zuhause. Wir können natürlich hoffen, dass sich jetzt politisch oder gesellschaftlich etwas tut. Dafür müssen wir immer wieder darauf aufmerksam machen.

Wie erleben Sie das im Sauerland? Ist hier die Welt noch vermeintlich in Ordnung? Papa geht arbeiten, Mama bleibt zuhause, alle Probleme gelöst?

Man muss natürlich sagen, dass gerade im Sauerland, aber auch in anderen ländlichen Regionen, die Gesellschaft noch sehr konservativ ist. Ob sich jetzt schnell was daran ändert, möchte ich bezweifeln. Es kann natürlich auch nicht sein, dass Männer sich überhaupt nicht mit dem Thema beschäftigen. Das ist ein großes Problem, das wir gerade im Sauerland haben. Ich habe mit meinem Partner drüber gesprochen, wie es ist, sich in einer Gegend voller männlich geprägter Strukturen als Feminist zu bezeichnen, oder einfach als jemand, der sich nicht mit diesen konservativen Strukturen zufrieden gibt. Wir sehen beide, dass es natürlich schwierig ist, sich für etwas einzusetzen, wenn man davon selbst so direkt nicht betroffen ist. Als Mann wird das immer noch ein bisschen belächelt. In den patriarchalen Strukturen bist du ja ganz gut aufgehoben.

Und wer gibt schon gerne Privilegien ab...

Genau. Viele haben sich einfach im Sauerland mit der Thematik noch gar nicht beschäftigt. Aber dadurch, dass der Feminismus ein bisschen im Mainstream angekommen ist, habe ich die leise Hoffnung, dass sich da etwas ändern wird. Gerade in Brilon haben wir Gruppierungen, die sich viel mit den Thematiken beschäftigen, auch zum Beispiel mit Minimalismus oder Veganismus. Mit allem, was vielleicht nicht so den konservativen Strukturen entspricht, sondern ein bisschen weltoffener ist.

Was sind das für Gruppierungen?

Es ist eine kleine Szene. Seit 2019 gibt es hier zum Beispiel einen Ortsverband der Grünen. Bei der Vorstellung hätten vor 10 oder 20 Jahren noch viele angefangen zu lachen. Aber mittlerweile haben wir ihn. Da sind viele Menschen, die tatsächlich vegan oder vegetarisch leben, und die das auch nach außen tragen und zeigen. Das ist schon auf dem Vormarsch, man wird dafür sensibilisiert und das ist eine Entwicklung, die positiv zu bewerten ist. Auf der man sich aber natürlich auch nicht ausruhen darf.

Ist denn die Jugend heute offener beim Thema Feminismus?

Es ist nicht unbedingt an die Jugend geknüpft, dass man offen für etwas ist. Man wird ja sozialisiert von seinen Eltern, von seinem Umfeld. Und wenn die alle seit Jahren in den gleichen Strukturen feststecken, dann kann man als junger Mensch nicht so viel dagegen ausrichten. Wer vielleicht studieren geht und sieht, dass es noch etwas anderes gibt hinter den Grenzen des Sauerlands, der mag da wohl offener sein. Hier tun sich schon auch viele Dinge, aber eben sehr, sehr langsam.

Was sagen Sie zum Thema geschlechtergerechte Sprache? Es gibt ja viele Frauen, die sich gar nicht daran stören, auf der Arbeit als “Kollege” bezeichnet zu werden.

Das ist ja auch jetzt erstmal nichts, was einem direkt schadet. Aber gerade bei solchen Sachen gebe ich immer den Ratschlag, einfach mal anzufangen, richtig zu gendern - auch in der gesprochenen Sprache. Wir sind gerade dabei, in Brilon einen neuen Verein zu gründen, um einen dritten Ort anbieten zu können. Und in der Satzung dieses Vereins haben wir darauf geachtet, komplett richtig zu gendern. Wir haben uns für den Doppelpunkt und “innen” entschieden, weil es jeden einschließen soll, nicht nur Frauen und Männer, das fanden wir am inklusivsten. Das kann man nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich machen, mit einem kurzen Stopp, also Kolleg:innen. Wenn man den Doppelpunkt mitspricht, wird man irgendwann darauf angesprochen. Eventuell schließen sich dann auch andere an. So kann man dann langsam und schleichend solche Sachen ein bisschen verändern und eine Sensibilität dafür schaffen.

Ist es dann nur eine Gewöhnungssache?

Sprache ist ein ganz wichtiger Teil der Gesellschaft und der Kultur des Umgangs miteinander. Wenn man in der Sprache schon anfängt, auf so Kleinigkeiten zu achten, kann man damit einen ganz großen Effekt erzielen. Was vielen gar nicht so bewusst ist. Natürlich ist es ohne Gendern leichter, es macht Texte kürzer, es macht das Leben einfacher, aber es ist erstens nicht richtig und zweitens nicht inklusiv für alle. Es gibt einfach Menschen, die sich da nicht repräsentiert fühlen, die sich nicht eingeschlossen fühlen.

Der Duden hat jetzt das generische Maskulinum abgeschafft. Dafür gab es viel Gegenwind. Dabei herrscht im Deutschen nach wie vor die männliche Form zur Bezeichnung weiblicher und männlicher Personen vor. 99 Sängerinnen und ein Sänger sind zusammen 100 Sänger. Als Mann sähe ich da vielleicht auch erstmal keinen Grund, daran etwas ändern zu wollen.

Männer sind die Nutznießer dieses Systems. Natürlich stört es sie erstmal eher nicht. Es hat für sie immer gut funktioniert. Sie sehen die Probleme nicht. Ob das deshalb entschuldbar ist, darüber mag man streiten. Allerdings finde ich, wenn man als Frau auch nicht sagt, dass man ein Problem mit dem einen oder anderen hat, braucht man sich am Ende eben auch nicht wundern. Man muss laut werden und für sein Recht einstehen. Das machen viele Frauen nicht.

Es ist doch auch häufig schwierig.

Natürlich ist es schwierig. Und es mag auch nicht für alle Frauen von Nachteil sein, in einem patriarchalen System zu leben. Es mag Frauen geben, die sagen ,Ich bin gerne Hausfrau, ich kümmere mich gerne um die Kinder, ich finde es nicht schlimm, dass mein Mann der Hauptverdiener ist’. Aber damit, dass sie akzeptieren, dass das ganze System so ist, schaden sie indirekt eben auch den anderen Frauen.

Geht es am Ende nicht einfach darum, eine Wahl zu haben?

Ja, richtig. Aber häufig ist es auch eine Frage des Geldes. Warum sind denn Männer häufig die Hauptverdiener? Wir müssen nicht über den Gender-Pay-Gap sprechen. Es ist nachgewiesen, dass Frauen für jeden Euro, den ein Mann verdient, nur 81 Cent bekommen. Allein das schon sorgt dafür, dass Männer zum Großteil die Hauptverdiener sind in Familien. Im Sauerland mag das sogar noch etwas weiter verbreitet sein. Das ist natürlich auch jetzt während der Pandemie ein ganz großes Problem. Vor allem für viele Alleinerziehende.

Haben Sie Ideen oder Wünsche, was sich konkret vor Ort ändern könnte?

Was jeder – auch im ländlichen Bereich - machen kann, ist, sich mit Themen zu beschäftigen, mit denen man sich sonst vielleicht nicht so beschäftigt hat. Einfach ein bisschen weltoffener sein, aufmerksamer durchs Leben gehen, gerade was Diskriminierung betrifft. Und das in jeglichem Fall, nicht nur gegenüber Frauen, sondern auch People of color, Intersektionalität allgemein, Behinderung etc. Ich wünsche mir, dass Männer nicht auf Partys gehen - also nach Corona - mit dem Ziel, eine Frau mit nach Hause zu nehmen. Dass Frauen nicht als Objekt, als Trophäe betrachtet werden, dass man das aber auch im Freundeskreis anspricht, wenn so etwas passiert. Oder nehmen wir die Schützenvereine: Es gibt nach wie vor nicht so viele Schützenvereine, in denen Frauen überhaupt Mitglied werden können.

Solche Dinge müssen geändert werden. Das sind ganz schlichte Sachen, die keinem weh tun. Frauen oder allgemein andere Menschen, die nicht männlich sind, sollten in solche Dinge einbezogen und nicht weiterhin ausgeschlossen werden, weil das eben die Tradition ist. Gerade dieses Traditionsdenken, was ja im konservativen Sauerland so weit verbreitet ist, muss aufhören. Tradition ist keine Entschuldigung für Diskriminierung. Aber damit haben wir eigentlich das größte Problem im Sauerland. Wenn wir Dinge wie die Gleichberechtigung voranbringen möchten, dann reicht es nicht, wenn wir uns auf ein T-Shirt schreiben "Ich bin Feministin" oder "Ich bin Feminist". Dann müssen wir auch so handeln.

Online-Vortrag: Feminismus - Warum er wichtig ist, Mittwoch, 27. Januar, 20 bis 21.30 Uhr, 8 Euro, Anmeldung unter www.vhs-bmo.de