Menden. Der Seniorenwunschbaum erobert von Menden aus das Sauerland. Bedürftige erhalten ein unerwartetes Weihnachtsgeschenk - und sind bewegt.
Die ältere Dame in den roten Pantoffeln schluchzt fast ein bisschen. Tränen füllen die Augen. Dann lächelt sie wieder. „Es ist alles so traurig“, sagt sie und schnappt mit dem Mund nach Luft, weil das Herz einen Hüpfer macht. „Aber auch so schön.“ Sie hat die Tür zu ihrer kleinen Wohnung geöffnet. Allein lebt sie dort schon viele, viele Jahre. Für mehr als diese Wohnung reichte das Geld nie, jetzt im Alter schon gar nicht. In den Vitrinen und auf den Schränken sind Bilder der Kinder und von Freunden. Im Radio in der Küche läuft „Last Christmas“.
Seniorenwunschbaum: 700 Wünsche schnell vergriffen
Ein Geschenk, silbern verpackt, hat sie ein paar Tage vor Weihnachten schon jetzt in der Hand. Das ist es, was sie so traurig macht. Und so glücklich zugleich. Nur widerwillig habe sie mitgemacht und ihren Wunsch aufgeschrieben. „Es ist doch beschämend“, sagt sie. „Ich kann schlecht etwas annehmen.“ Ihr Wunsch: ein Schlafanzug.
Dieser Wunsch kam als Kärtchen an den Seniorenwunschbaum in Menden. Einer von 700 Wünschen von Bedürftigen, die allein in der Stadt im Sauerland von Mitbürgern erfüllt werden. Das Ehepaar Olaf und Katrin Jäger hat den Seniorenwunschbaum 2021 erstmals organisiert. „Weil diese Generation so oft vergessen wird“, sagt Katrin Jäger. „Weil es viele alte Menschen gibt, die arm sind“, sagt ihr Mann. Ein Geschenk habe darüber hinaus nicht nur einen materiellen Wert, sondern einen emotionalen: „Es denkt jemand an mich“, sagt Olaf Jäger.
Mit dem Wohngeld- oder Grundsicherungsbescheid versendet die Stadt seither jedes Jahr die Wunschzettel an die bedürftigen Senioren - samt frankiertem Rückumschlag. „Wenn die ersten Rückläufer da sind, habe ich schon das erste Mal Tränen in den Augen“, sagt Olaf Jäger. „Ich bin Unternehmer, ich kann sonst einiges ab. Aber das geht mir zu sehr ans Herz.“
Er zählt Wünsche der Senioren auf: ein Päckchen Kaffee, eine Kuscheldecke, eine Tafel Schokolade. „Eine 101 Jahre alte Frau wünschte sich im vergangenen Jahr ein Kopfkissen, weil sie immer auf der Couch schläft“, erinnert sich Katrin Jäger. „Es ist unglaublich, wie viel Armut in so einem Ort steckt.“ Der Wert des Wunsches soll 30 Euro nicht überschreiten. Aber auch in diesem Preissegment gibt es viele Wünsche von Senioren, die mitmachen. Wenn auch schweren Herzens. Wie die Frau in den roten Pantoffeln.
„Wir waren im Urlaub und sprachen über Kinderwunschbäume. Und dann fragten wir uns, warum es das nicht für ältere Menschen gibt. “
„Ich war alleinerziehend und habe 40 Jahre lang immer viel gearbeitet. Ich habe immer selbst für mich und meine Kinder gesorgt.“ Das war und ist ihr wichtig. Jetzt braucht sie Hilfe. Nicht die einzige negative Empfindung, die in ihr aufglimmt. „Ich habe ein schlechtes Gewissen meinen Kindern gegenüber, weil sie in spartanischen Verhältnissen groß geworden sind.“ Das müsse sie nicht, sagten die Kinder immer. Aber sie kann es nicht ändern.
In der Firma von Olaf Jäger steht Anfang Dezember stets der Wunschbaum. Die Absender sind anonymisiert. „Gerade die ältere Generation schämt sich“, sagt Olaf Jäger. Alle 700 Wünsche waren binnen weniger Tage abgepflückt. Im Laden werden auch die Geschenke gesammelt und adressiert.
Wünsche: Süßigkeiten, Kuschelsocken, CD‘s, ein Stofftier
Frau K. wünscht sich Toffeebonbons.
Herr R. ein blaues, graues oder grünes T-Shirt.
Frau S. Kuschelsocken in Größe 37.
Herr W. CD‘s von den Hollies.
Frau E. ein Stofftier.
Herr B. wünscht sich einen Gutschein für einen Cafe-Besuch zu zweit.
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In der Woche vor Weihnachten fahren dann freiwillige Boten los und beliefern einzelne Stadtteile und die Seniorenheime, aus denen ebenfalls Wünsche eingereicht werden konnten. Zu jedem Geschenk legt der Verein „Mendener in Not“ einen Lebensmittelgutschein bei. Eine Schulklasse hat Grußkarten gebastelt und beschriftet. „Die hängen manchmal noch Monate später am Kühlschrank“, sagt Olaf Jäger.
Vor drei Jahren haben er und seine Frau den Wünschebaum erstmals aufgestellt. „Wir waren im Urlaub und sprachen über Kinderwunschbäume“, erinnert sich Olaf Jäger an die Anfänge der Mendener Geschichte. „Und dann fragten wir uns, warum es das nicht für ältere Menschen gibt.“ Zurück zu Hause machten sie sich gleich ans Werk.
Mindestens 26 andere Kommunen setzen die Idee auch um
Offenbar ein Erfolgsmodell, denn es findet reichlich Nachahmer, wie die Jägers berichten. „26 Kommunen sind es allein, von denen wir wissen.“ Darunter seien Fröndenberg, Iserlohn, Balve, Plettenberg, Arnsberg, aber auch Städte in Nord- und Süddeutschland. Ein allgemeines Handbuch mit Ansprechpartnern, Zeitplänen und nützlichen Informationen haben sie für die entsprechenden Kommunen angefertigt.
Heike und Daniel Büttinghaus sind die Boten, die der Frau in den roten Pantoffeln ihr Geschenk an diesem Nachmittag bringen. Nicht alle seien so dankbar, wie die Dame. „Aber für Menschen wie sie machen wir das.“ Vorsichtig öffnet die Seniorin das Geschenk. Das Papier soll keinen Schaden nehmen. „Das kann ich nochmal verwenden“, sagt sie. Ein schwarzer Schlafanzug mit Blumen darauf kommt zum Vorschein. Sie zeigt auf ihren Arm. „Ich habe Gänsehaut“, sagt sie. „Ihr seid meine Weihnachtsengel.“