Olpe. Die Weihnachtszeit ist auch in Deutschlands ältestem Kinderhospiz in Olpe besonders. Zu Besuch dort, wo gelacht werden darf und soll.

An das Bett von Süreyya dringt Weihnachtsmusik.

Pa-ram pam-pam-pam.

Sie liegt dort unter einer rosafarbenen Einhorndecke, in den Armen zwei Stofftiere, rechts einen Eisbären, links einen Teddy.

Pa-ram pam-pam-pam.

Das Lied handelt von einem armen, kleinen Trommler, der dem neugeborenen Jesuskind vorspielt - und ihm wie durch ein Wunder ein Lächeln auf die Lippen zaubert.

Pa-ram pam-pam-pam.

Ob Süreyya das hören kann? Ob sie es mag? Ivonne Keseberg glaubt ganz fest daran, kann die Frage jedoch nicht mit Sicherheit beantworten, ist Süreyya doch mit einem Defekt im Gehirn auf die Welt gekommen: Ihr Körper und Kopf sind nicht ausgewachsen, mittlerweile kann sie Arme und Beine nicht mehr bewegen, sie ist 19 Jahre alt, wird beatmet und künstlich ernährt.

Wenige Tage vor Weihnachten im Kinder-Hospiz

Ivonne Keseberg streicht Süreyya das schwarze Haar aus der Stirn. „Ne, Mäuschen? Heute morgen hast du mich auch schon angelächelt“, sagt sie.

Es ist ein Tag kurz vor Weihnachten im Kinder- und Jugendhospiz Balthasar in Olpe. Dort, wo Nächstenliebe und Fürsorge gelebt werden, ist Ivonne Keseberg Kinderkrankenschwester - und begleitet Kinder auch in den letzten Sekunden ihres Lebens. „Ich würde nirgendwo anders arbeiten wollen“, sagt sie. Weil da auch Trost wohnt und Hoffnung. Weil da Licht ist, nicht nur Dunkelheit.

Süreyyas Lächeln sei kaum wahrnehmbar, sagt die 48-Jährige. Die Oberlippe spanne sich dann etwas. Ein kleiner, flüchtiger Moment. Aber darum gehe es ja. „Es gibt diesen Spruch, der lautet: Momente ahnen gar nicht, wie wichtig sie sind. Nirgendwo gilt das mehr als hier. Es geht um Augenblicke“, sagt Ivonne Keseberg.

Kinder-Hospiz Balthasar

Anders als in einem Hospiz für schwer kranke Erwachsene werden die Kinder und Jugendlichen nicht dauerhaft und bis zum Tod aufgenommen. Familien mit schwer kranken Kindern oder Jugendlichen können sich hier bis zu 28 Tage im Jahr zu Entlastungsaufenthalten aufhalten und Kraft schöpfen. Vor allem Kinder mit lebenslimitierenden Gendefekten, Muskel- oder Stoffwechselerkrankungen kämen nach Olpe, wie das Haus mitteilt. Krebspatienten seien selten.

Das Kinder-Hospiz Balthasar gibt es seit 1998 und es ist das erste seiner Art in Deutschland gewesen. Aus dem gesamten Bundesgebiet suchen Familien die Hilfestelle in Olpe auf. Die meisten Besucher kämen aber aus einem Umkreis von 120 bis 200 Kilometern, teilt das Haus mit. Zu 50 Prozent werden die Leistungen durch Spenden finanziert, weil die Leistungen über das hinaus gehen, was Kranken- und Pflegekassen übernehmen. Prominente Paten wie zum Beispiel Schauspieler Christoph Maria Herbst unterstützen die Einrichtung.

Das Kinderhospiz Balthasar war das erste in Deutschland, eröffnet 1998. Ivonne Keseberg bewarb sich damals direkt, seit 1999 ist sie dabei. Das, was sie das Gästebuch nennen, legt Zeugnis über diese Zeit ab: Ein langgezogener Flur nahe des Eingangs, dessen weiße Wände voller bunter Hand- und Fußabdrücke sind. Dazu jeweils ein Name und ein Datum. Hunderte Abdrücke. Grüne, rote, gelbe, blaue. Große und winzig kleine. Beim ersten Besuch verewigt sich jedes Kind dort.

Roland.

Dunja.

Lisa.

Leon. Nathan. Isabel.

Sinje. Ben. Marvin. Ida. Nina. Ahmed.

Süreyya. 20. Mai 2009.

So lang schon kommt die Familie mit ihr nach Olpe. 28 Tage Aufenthalt stehen Familien pro Jahr zu, deren Kinder wegen unheilbarer Krankheiten einem viel zu frühen Tode geweiht sind. Aufenthalte, die Familien ein Stück Normalität zurückgeben in dem Wissen, dass ihr Kind umsorgt wird. Mal ausschlafen. Sich mit anderen unterhalten. Geschwisterkindern mehr Aufmerksamkeit schenken, als das sonst der Fall ist und sein kann, weil die Tage den Bedürfnissen des kranken Kindes folgen.

„Es ist ganz oft so, dass wir Kinder und deren Familien über einen langen Zeitraum begleiten“, sagt Ivonne Keseberg, eine Frau, die gern und viel lacht. „Das muss auch so sein.“ Ihre Füße stecken in Hausschuhen, auf denen ebenfalls bunte Handabdrücke zu sehen sind.

Niemand weiß, wohin die Reise geht - und wann

Süreyya zuckt im Gesicht und mit den Armen. Die Kinderkrankenschwester legt ihre Hände auf die Wangen und die Stirn der 19-Jährigen, übt ein wenig Druck aus. „Das mag sie“. Süreyya beruhigt sich wieder. Seit 2009 ist ihr Zustand immer schlechter geworden. Gerade kämpft sie nach einer Lungenentzündung mit dem nächsten Infekt. „Wir wissen noch nicht, wohin die Reise geht“, sagt Ivonne Keseberg und zuckt mit den Schultern. Abschied ist immer ein Thema, schon bei der Begrüßung.

Lachen dringt herüber, von dort, wo der Weihnachtsbaum mit seinen roten, grünen und weißen Kugeln steht. In dem großen Raum nebenan treten gerade zwei Clowns auf. Sie spielen auf der Ukulele und singen Kinderlieder mit einer anderen Familie.

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Ich könnte das ja nicht - das, sagt Ivonne Keseberg, sei der Satz, den sie am häufigsten höre, wenn sie erzählt, was ihr Beruf ist und wo sie arbeitet. „Ich könnte dafür anderes nicht: auf der Intensivstation zum Beispiel arbeiten.“ Es komme, sagt sie, auf die richtige Haltung an. Sie kann das nicht besser erklären. Haltung zum Leben vielleicht. Und vor allem: Haltung zum Tod. Das eine gibt‘s nicht ohne das andere. „Leben und Lachen, Sterben und Trauern“ steht in großen Buchstaben vorne an der Wand. Alles bekommt seinen Raum.

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Die Ergotherapeutin, die sich gerade um Süreyya gekümmert hat, damit sie beweglich bleibt und weniger Schmerzen beim Liegen und Umlagern hat, verlässt das Zimmer wieder. „Manchmal“, sagt die Frau, „manchmal fahre ich von hier direkt nach Hause und drücke als allererstes meine Kinder ganz lange.“ Ivonne Keseberg blickt mit feuchten Augen herüber. „Oh, wie schön, da kommen mir direkt die Tränen. Ich bin so nah am Wasser gebaut.“

Als die Kinderkrankenschwester im BVB-Stadion in Tränen ausbricht

Ivonne Keseberg hat keine Kinder. „Diesen Beruf kann man nicht einfach abstreifen“, sagt sie und erinnert sich an ein Mädchen, das sie immer in einer Art Umarmung rütteln musste, damit ihm das Husten leichter fiel. Dabei lief immer das gleiche Lied: „Cotton Eye Joe“ von Rednex. Ein Gute-Laune-Lied aus den 90ern, zu dem es einen eigenen Tanz gibt. „Das sollte ja auch gute Laune verbreiten“, sagt Ivonne Keseberg.

Das Mädchen starb. Als das Lied danach im Stadion ihres Lieblingsfußballvereins Borussia Dortmund abgespielt wurde, weinte die Kinderkrankenschwester hemmungslos zwischen 80.000 anderen Besuchern. „Einmal das Seelchen putzen“, sagt sie dazu und lacht wieder.

Bei Cathy im Zimmer: Wut, 1. Akt

Im Erdgeschoss des Hospizes befinden sich acht Zimmer für Kinder und vier für Jugendliche. In der Etage darüber schlafen die Eltern und Geschwister. Nebenan von Süreyya liegt derzeit das Zimmer von Felix (13), daneben das von Milo (10), daneben das von Elina (5). Seltene Gendefekte oder Stoffwechselerkrankungen führen die Kinder oft her. Die Kleinsten der Kleinen. Und solche, die schon junge Erwachsene sind. „Die meisten der Kinder und Jugendlichen können sich nicht mehr über Sprache verständlich machen“, sagt Ivonne Keseberg. Wie viel da zurückkommt, sei für sie egal. „Das macht keinen Unterschied. Was wir tun können, um zu helfen, das tun wir.“

In einem anderen Zimmer ist gerade Cathy (19) zu Gast. „Sie lässt einen sofort spüren, wie sie gerade zurecht ist“, lacht die Kinderkrankenschwester. Weil Cathy aber Schauspiel und Theater mag, haben sie ihr neulich bei der täglichen Routine ein Mini-Drehbuch zugerufen. Der kurze erste Akt: Wut. Ausgiebiger zweiter Akt: gute Laune. „Das hat sie super mitgemacht.“

Lustige Gäste: Clowns bringen die Kinder mit Musik und Spaß zum Lachen.
Lustige Gäste: Clowns bringen die Kinder mit Musik und Spaß zum Lachen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die Zeit vor Weihnachten ist eine besondere Zeit. „Viele“, sagt Ivonne Keseberg, „wollen gerade jetzt bei uns sein, um die Zeit besser erleben zu können.“ Plätzchen backen, singen - und jeden Tag Weihnachtsgeschichten lesen. Einen Adventskalender mit Geschenken gibt es auch. Alle Familien kommen zusammen, wenn sie geöffnet werden. Ivonne Keseberg erinnert sich an das erste Säckchen am Adventskalender. Kilian, ein achtjähriger Junge, der viel Bewegung braucht, zog ein Paar Nikolaussocken. „Wie stolz er war, als er sie anhatte. Wie er sich gesehen fühlte von den anderen Familien...“. Sie spricht den Satz nicht zu Ende. Momente ahnen gar nicht, wie wichtig sie sind.

Alles, was den Kindern gefällt und gut tut: Süreyya trägt seit einigen Tagen rote Fingernägel.
Alles, was den Kindern gefällt und gut tut: Süreyya trägt seit einigen Tagen rote Fingernägel. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Aber da sind auch die weniger sichtbaren Momente des Glücks. „Wenn ich Süreyyas Zimmer verlasse, sie ruhig und zufrieden ist, dann ist das für mich genauso schön“, sagt Ivonne Keseberg. „Wir machen alles, was den Kindern gut tut.“ Das kann ein Wellnessbad sein oder eine neue tolle Frisur. Süreyya wurden die Fingernägel rot lackiert. Sie seien mit anderen Kindern auch schonmal Schuhe kaufen gewesen in der Stadt oder ein Kommunionkleid. „Das sind kleine und große Meilensteine, die erreicht werden. Das ist hoch emotional für die Familien.“ Für Ivonne Keseberg meistens erst später, wenn Eltern Briefe nach Olpe schicken und sich für alles bedanken. Das berührt sie.

Begleitung, wenn der letzte Atemzug bevorsteht

„Die guten Momente gibt es jeden Tag. Manchmal muss man sie auch suchen“, sagt die 48-Jährige. Ihre Zuversicht scheint unverwüstlich, ihre Kraft unerschöpflich. Sie gehört zu jenen, die die Kinder und deren Familien begleiten, wenn der letzte Tag begonnen hat, wenn der letzte Atemzug bevorsteht. „Ich versuche dafür zu sorgen, dass es ein gutes, ein friedliches Sterben wird, mit dem die Angehörigen gut weiterleben können“, sagt sie. Es klingt wie etwas, das man kaum schaffen kann.

An Weihnachten selbst ist das Haus - abgesehen von möglichen Notfällen - leer. Ivonne Keseberg hat an allen Feiertagen Bereitschaftsdienst in der Nacht. Süreyya wird dann schon wieder zu Hause sein. Ivonne Keseberg erinnert sich, wie sie damals 2009, als das Mädchen zum ersten Mal zu ihr kam, fragte, was der Name bedeute. Frei übersetzt: Licht der Sterne. Sie durchbrechen die Dunkelheit. Wie Trost und Hoffnung.