Geseke. Er saß nicht in der Lok, sondern zwischen zwei Waggons, bevor in Geseke der Zug entgleiste – und er starb. Warum die Ursachensuche länger dauert.

Es ist erschreckend und bewegend zugleich, diese Szenen in dem Video zu sehen. Denn man weiß, dass in der Realität wenige Sekunden später ein Mensch stirbt. Ein Güterzug mit mehreren Waggons ist auf den Aufnahmen zu sehen, der in recht hoher Geschwindigkeit über das einspurige Gleis nahe von Wohnhäusern in Geseke fährt und auch noch eine unbeschrankte Straße passiert. Wer genau hinsieht, entdeckt, dass Flammen aus dem Motorraum der roten Diesellok schlagen. Und vor allem: dass ein Mann zwischen zwei Waggons sitzt.

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Mittlerweile ist klar: Es handelt sich um den 30-jährigen Lokführer aus Warstein, der an jenem Sonntag, dem 10. September, Zement aus einem der nahe gelegenen Zementwerke abtransportieren soll. Der Mann wird wenige Sekunden später tot sein, weil der Zug wenige Hundert Meter weiter entgleist. Eines der schwersten Zugunglückein der Region in den vergangenen Jahrzehnten.

Wie es dazu kommen konnte? Warum der Lokführer bei laufender Fahrt zwischen den Waggons kauerte? Das wird wohl noch länger ein Rätsel bleiben.

Die zuständige Staatsanwaltschaft Paderborn hat zwar ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, sie wartet aber auf die bahntechnischen Untersuchungen. Und die werden wohl noch dauern. Die zuständige Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchungen (BEU) in Bonn kann noch nicht einschätzen, wie viel Zeit es noch braucht, bis die Untersuchungen abgeschlossen sein werden.

Viele Spekulationen nach dem Unglück

Spekulationen gab es und gibt es viele nach dem Unglück: Dass es durchaus nicht ungewöhnlich ist, dass Lokführer von Güterzügen bei Rangierarbeiten oder etwa an unübersichtlichen Bahnübergängen auch die Lok verlassen und das Gespann per Fernsteuerung übernehmen, gilt inzwischen als gesichert. Ob – so lautet eine These – das Gespann sich am Zementwerk aber einfach in Bewegung gesetzt, der Lokführer dann noch aufgesprungen sei, um die Bremsschläuche zu trennen, ist aber völlig offen. Ebenso, ob es noch Kontakt zwischen dem Lokführer und dem Fahrdienstleiter während der Unglücksfahrt gab. In Eisenbahn-Foren im Internet wird viel über die möglichen Abläufe und Ursachen diskutiert.

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Die Staatsanwaltschaft in Paderborn will sich daran nicht beteiligen: „Es wird derzeit keine weiteren Auskünfte zum Stand der Ermittlungen geben – auch nicht zur Frage von etwaigen Verantwortlichkeiten anderer Personen und Institutionen“, so Staatsanwalt Kai Uwe Waschkies, der Sprecher der Behörde. Das Verfahren werde derzeit gegen unbekannt geführt, man warte auf das Gutachten.

Manchmal dauern Untersuchungen mehrere Jahre

Wie lange das dauert? Moritz Metzler, der Sprecher der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchungen (BEU), muss passen: „Eine belastbare Aussage zum Zeithorizont einer Veröffentlichung des Untersuchungsberichts ist nicht möglich.“ Schaut man auf die Abschlussberichte bei anderen Unglücken, dann kann das Jahre in Anspruch nehmen. Im Fall eines entgleisten Zugs in Hamm hat das sogar fast acht Jahre gedauert: Im Oktober 2015 hatte sich das Unglück ereignet, erst im Juni dieses Jahres wurde der Zwischenbericht veröffentlicht.

Die Drohnenaufnahme zeigt den Unfallort am Tag nach dem Unglück in Geseke.
Die Drohnenaufnahme zeigt den Unfallort am Tag nach dem Unglück in Geseke. © Bernd Eickhoff | Bernd Eickhoff

Aber immerhin: Spätestens ein Jahr nach dem Unglück soll ein Zwischenbericht veröffentlicht werden, wie zuletzt im Sommer zu dem folgenschweren Zugunglück in Garmisch-Partenkirchen vom Juni 2022 mit fünf Toten. Zumindest erste Hinweise zu der Ursache konnten da bekannt gegeben werden.

Dass man im Fall des tödlichen Zugunglücks von Geseke sehr akribisch ermittelt, das macht BEU-Sprecher Moritz Metzler deutlich: „Wir haben unverzüglich Ermittlungen aufgenommen und waren über mehrere Tage mit bis zu vier Untersuchungsbeauftragten vor Ort, um relevante Beweise zu sichten und zu sammeln.“ Nicht nur am Unglücksort selbst, sondern auch an anderen Stellen. Diese Beweismittel würden nun systematisch ausgewertet – und dazu gehöre eben auch das Video.

Anwohner wollte eigentlich Tiere beobachten – und filmte das Unglück

Das entstammt einer Kamera, die ein Anwohner der Bahnstrecke an seinem Fenster fest installiert hatte. Eigentlich, um im angrenzenden Naturschutzgebiet Tiere zu filmen, wie er der Bild-Zeitung erzählte. An dem Unglücks-Sonntag hatte der 60-Jährige die Unglücksfahrt zwar nicht live gesehen, er guckte sich später aber die Aufnahmen an, sah das Zuggespann, den Lokführer zwischen den Waggons - und übergab das Filmmaterial den Ermittlungsbehörden.

„Die Rekonstruktion dessen, was sich tatsächlich abgespielt hat, steht in der ersten Phase der Ermittlungen im Vordergrund“, sagt Moritz Metzer von der staatlichen Untersuchungsstelle in Bonn. Im Fokus der Ermittlungen zur Unfallursache stünden aktuell die betriebliche und technische Zugvorbereitung. Eine aufwändige Simulation des Unglücksgeschehens sei derzeit nicht geplant, auch externe Gutachter seien bislang nicht eingeplant. Insgesamt seien es in solchen Fällen aber immer sehr komplexe Ermittlungen, daher auch die unbestimmte Zeitspanne.

Bahn investiert Millionen Euro in Wiederherstellung der Strecke

Ein deutlicheres Bild zeichnet sich ab, wie hoch der Sachschaden allein an der Bahnstrecke war. Einen „mittleren einstelligen Millionenbetrag“ habe man bislang in die Wiederherstellung der Strecke investiert, so ein Bahnsprecher. Seit Mitte Oktober, mehr als einen Monat nach dem Unglück, fahren auch wieder Züge auf der Strecke, auf der unter anderem auch der ICE verkehrt. An einigen Stellen gebe es aber noch Einschränkungen.

Die Bahn habe unmittelbar nach dem Unglück mit den Aufräumarbeiten begonnen. Mit Großgeräten hätten die Notfalltechniker die 14 Wagen beiseite geräumt, um die Strecke frei zu bekommen. Der ausgetretene Zement war ebenfalls eine Herausforderung. In kürzester Zeit habe man rund 2500 Meter Oberleitung, 1600 Meter Schienen, 1400 Schwellen sowie 4000 Tonnen Schotter erneuern müssen.