Geseke. Ein dramatisches Zugunglück kostet Jonas (30) das Leben. Sein Kumpel erinnert sich an ihn - und an die Bilder an der Unfallstelle.

Dort, wo die Leidenschaft begann, die ihn das Leben kostete, steht nun eine Vitrine. In der obersten Etage hat er seinen Platz gefunden. Ein Bild von ihm in einem weißen Rahmen, im Hintergrund ein Zug. Er lächelt auf dem Foto, wie er es oft getan hat. Auf einem Miniatur-Waggon darunter die Worte: „In Gedenken an unseren Jonas.“ Und ein Schild: „Ehrenlokführer“.

Michael Bauer (30) hat das Erinnerungsstück dort platziert: Jonas‘ Freund seit Kindesbeinen, ebenfalls Eisenbahnliebhaber. Am Tag, als das Unglück geschah, fuhr Michael Bauer seinen Kumpel zum Dienst. Bauer - schwarze Kappe, kurze Hose, breiter westfälischer Dialekt - sitzt in einer ausgebauten Dreiersitzreihe eines Zuges, die am Bahnhof in Warstein (Kreis Soest) als eine Art Couch dient. Er sagt: „Es ist immer noch ungewohnt, dass er nicht mehr da ist. Ich warte jeden Tag auf eine SMS von ihm.“

Zugunglück in Geseke: Flammen schlagen aus der Diesel-Lok

Vor einem Jahr, am 10. September 2023, einem Sonntag, ereignet sich in Geseke (Kreis Soest) eines der schwersten Zugunglücke der vergangenen Jahrzehnte in Südwestfalen. Die Umstände erscheinen noch immer rätselhaft. Auch dank der Aufnahme einer privaten Überwachungskamera, die den Unfall zufällig filmte, ist klar: Der Lokführer, 30 Jahre alt, steuert mit recht hoher Geschwindigkeit einen Güterzug mit mehreren Waggons, die in einer nahe gelegenen Zementfabrik beladen wurden. Zwei Besonderheiten sind auf dem Video zu erkennen. Erstens: Flammen schlagen aus dem Motorraum der roten Diesellok. Zweitens: Der Lokführer befindet sich nicht im Führerhaus, sondern zwischen zwei Waggons. Wenige Augenblicke später - um 15.28 Uhr - entgleist der Zug mit zwölf Wagen in einer Kurve, die ihn auf das Hauptgleis bringen soll.

„In Gedenken an unseren Jonas“: Ein Foto des verstorbenen Lokführers erinnert in den Räumlichkeiten der „Eisenbahnfreunde Warstein“ an Jonas.
„In Gedenken an unseren Jonas“: Ein Foto des verstorbenen Lokführers erinnert in den Räumlichkeiten der „Eisenbahnfreunde Warstein“ an Jonas. © WP | Daniel Berg

Wie das geschehen konnte? Wieso die Lok in Flammen stand? Warum der Lokführer - ein nach Aussage von Berufskollegen offenbar nicht unübliches Vorgehen - mit Fernbedienung zwischen den Waggons kauerte? Offizielle Antworten darauf gibt es derzeit noch nicht. Die Staatsanwaltschaft Paderborn teilt auf Nachfrage mit, dass ihre Ermittlungen bislang „keine Hinweise auf ein Fremdverschulden“ ergeben hätten. Man warte aber für eine abschließende Beurteilung auf die Ergebnisse der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) in Bonn. Diese teilt einen Tag vor dem Jahrestag in einem Zwischenbericht mit, dass die Ermittlungen andauerten.

Luftaufnahme des entgleisten Güterzuges bei Geseke.
Luftaufnahme des entgleisten Güterzuges bei Geseke. © dpa | Friso Gentsch

Am Bahnhof in Warstein sitzt Michael Bauer, der beste Freund des verstorbenen Lokführers, und schaut aus dem Fenster ins Licht der Sonne. Bauer ist Vorsitzender des Vereins „Eisenbahnfreunde Warstein“, die ihre Räumlichkeiten im Bahnhofsgebäude haben: Modelleisenbahnen, originale Sitzreihen, Schilder, Schaffneruniformen. In einer Ecke: die Vitrine mit dem Foto von Jonas, der dort auch Mitglied war. Sie gingen zusammen zur Schule, rauchten die erste heimliche Zigarette zusammen, tranken das erste Bier gemeinsam. Ein Freund der Familie. Jonas‘ Eltern und sein Bruder wollen öffentlich nicht in Erscheinung treten. Aber sie sind einverstanden, dass sich Michael Bauer äußert.

Schon mit sechs, sieben Jahren war er immer am Bahnhof und beobachtete die Züge

„Wenn man ihn damals als Kind suchte, dann war er sicher hier am Bahnhof“, sagt Michael Bauer. Schon mit sechs, sieben Jahren sei er mit dem Fahrrad hinunter zum Bahnhof gefahren und habe die Güterzüge zur Warsteiner Brauerei oder in den Steinbruch Hohe Lieth bewundert. Bauer ist heute stellvertretender Betriebsleiter im Steinbruch. Sein Kumpel wollte immer nur eines: Lokführer sein.

Ein Bild der Zerstörung: Am 10. September 2023 entgleiste ein Güterzug in Geseke im Kreis Soest.
Ein Bild der Zerstörung: Am 10. September 2023 entgleiste ein Güterzug in Geseke im Kreis Soest. © dpa | Christian Müller

Erst fuhr er Personenzüge im Sauerland. „Dann wollte er die große weite Welt sehen“, sagt Bauer und lächelt. Güterverkehr. Porsches durch die halbe Republik. Oder Steine. Oder Zement. Ihm fast egal. Zum Hafen in Rotterdam, nach Salzburg, nach Berlin, zum Hamburger Hafen, nach München, nach Aachen. Manchmal ist er eine Woche unterwegs, schläft in Hotels, lebt aus dem Koffer. Genau deswegen kehrt er im August 2023 zurück zum Personenverkehr der Deutschen Bahn. Er will wieder näher bei der Familie und den Freunden sein. Die Güterzüge vom Zementwerk wird er nebenher nur noch bis Ende des Jahres fahren, dann ist Schluss. So ist es abgemacht.

Weitere Themen aus der Region:

„Er war fast nie schlecht gelaunt und immer hilfsbereit“, sagt Bauer über seinen Kumpel. Wenn der Fußballverein in Warstein, für den Jonas früher spielte, Helfer braucht, ist er eigentlich immer da. Am 10. September 2023 soll er als Stadionsprecher einspringen. Kreisliga A. Gegner: Westfalia Erwitte. „Ich kann nicht“, sagt Jonas, „ich muss einen Zug fahren.“

Es habe sich angehört wie ein Erdbeben: Zugunglück in Geseke

weitere Videos

    Das Handy von Michael Bauer klingelt an jenem Sonntag um 11 Uhr. Sein Kumpel ist dran. Weil dessen Arbeitstag woanders beginnt, als er enden wird, braucht er jemanden, der ihn nach Lippstadt bringt, wo die Lok für den Zementauftrag steht. Bauer fährt ihn hin. Sie sprechen während der Fahrt über den Ausflug am kommenden Wochenende nach Göppingen zum Tag der offenen Tür bei Märklin, dem legendären Modelleisenbahnhersteller.

    Der beste Freund bringt Jonas zu dessen letzter Dienstfahrt

    Jonas, sagt Michael Bauer, habe für alle die Hotelzimmer gebucht und die Zugfahrten herausgesucht. Die beiden wären wie immer auf ein Zimmer gegangen. „Hast du auch wirklich frei“, fragt Bauer. „Ja, alles geregelt“, lautet die Antwort. Nach allem, was dann geschieht, überlegen die Vereinsfreunde, ob sie den Ausflug eine Woche später wirklich machen sollen. „Der hätte mir einen Vogel gezeigt, wenn ich ihm gesagt hätte, dass wir nicht fahren“, sagt Bauer und beginnt zu lächeln. Die Vorstellung, dass Jonas jetzt mit seinem verschmitzten Lächeln im Gesicht da stehen könnte und sich an die Stirn tippt, gefällt ihm offenbar.

    Ankunft in Lippstadt. „Als wir da waren, habe ich ihm noch einen schönen Tag gewünscht“, erinnert sich Bauer: „Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.“

    „Ich versuche die Bilder zu verdrängen. Aber manchmal träume ich davon oder werde nachts wach und hab diesen grauen Haufen aus Zement und Stahl wieder vor Augen. “

    Michael Bauer,
    bester Freund des verstorbenen Lokführers

    Die Eltern von Michael Bauer haben einen Hund, Bilbo, ein Golden Retriever. „Auf niemanden hat der besser gehört als auf Jonas“, sagt Bauer. „Er ist regelmäßig mit ihm Gassi gegangen. Die beiden waren ein Herz und eine Seele.“ Wenn Jonas nicht Eisenbahn fuhr, dann fotografierte er Lokomotiven, Züge, Gleise. „Wir wollten in diesem oder im nächsten Jahr nach Amerika reisen“, erinnert sich Michael Bauer. Dort, habe Jonas immer gesagt, führen Güterzüge mit zwei Containern übereinander. „Das war sein Traum, die wollte er mal mit eigenen Augen sehen.“

    Der Anruf, dass ein Güterzug in Geseke verunglückt ist, erreicht Michel Bauer am Sonntagnachmittag. Eine Freundin aus dem Verein ist am Telefon. Sie haben Angst, dass es ihr Freund sein könnte. Bauer fährt sofort los. In der Nähe der Unfallstelle wird er von Polizisten aufgehalten. „Was suchen Sie“, fragt einer. „Meinen Kumpel“, sagt Bauer. Die Kriminalpolizei kommt hinzu. Die Beamten zeigen ihm nur ein paar Schuhe. „Hat er die heute morgen getragen?“ Bauer nickt.

    Es dauert Tage, bis das Bild der Zerstörung beseitigt ist

    Am Unfallort herrscht ein Bild der Zerstörung. Die Lok ist aus den Gleisen gesprungen, hat einen grünen Zaun durchbrochen, dahinter schieben sich die tonnenschweren Waggons ineinander. Tonnen von feinem Zementpulver liegen wie eine dichte Decke darauf. Irgendwo darunter: Jonas, der Lokomotivführer. Verbogene Gleise, ruinierte Bahnschwellen. Tagelang dauert es, bis schwere Kräne den Zug bergen können und der Zement abgesaugt ist. Noch immer steht auf Höhe der Unfallstelle ein Bauzaun als Provisorium. Überreste roter Stahlstreben, die zu dem eigentlichen Zaun gehörten, ragen noch aus dem Boden wie kleine Mahnmale.

    Einen mittleren einstelligen Millionenbetrag musste die Bahn investieren, um die Schäden zu reparieren.
    Einen mittleren einstelligen Millionenbetrag musste die Bahn investieren, um die Schäden zu reparieren. © WP | Katharina Kalejs

    „Es war alles voller Zement. Ich versuche die Bilder zu verdrängen“, sagt Michael Bauer und lüftet die schwarze Kappe kurz, als könne aufsteigende Hitze entweichen. Er kann das alles erzählen, ohne groß ins Stocken zu geraten, ohne den Tränen nahe zu sein. Er habe ein dickes Fell, sagt er. „Aber manchmal träume ich davon oder werde nachts wach und hab diesen grauen Haufen aus Zement und Stahl wieder vor Augen.“ Er macht eine kurze Pause und blickt hinaus aus dem Fenster. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke.“ Oft einfach nur, wenn er auf sein Handy schaut und da wieder keine Nachricht ist. Er muss sich doch gleich melden. So wie früher.