Herscheid. Bei Herscheid im Märkischen Sauerland wurde ein Wolfspaar mit seinem Nachwuchs nachgewiesen. Wie die Bevölkerung darauf reagiert.
Es sind Bewegtbilder für die Heimatgeschichtsbücher, die kurz vor Mitternacht des 27. August 2024 in einem Wald in der Gemeinde Herscheid (Märkischer Kreis) von einer Wildkamera eingefangen werden: Auf dem Video laufen zwei ausgewachsene Wölfe und mehrere Jungtiere munter durchs Bild, ein Elternteil scheint geradezu bewusst in die Kamera zu schauen. Es ist das erste bestätigte Wolfsrudel im Sauerland seit mehr als 200 Jahren.
Zwei Tage nach den Aufnahmen bestätigte das NRW-Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (LANUV), dass „durch eine Fotofalle mindestens sechs Welpen und zwei erwachsene Tiere (ein Männchen und ein Weibchen) im Territorium Ebbegebirge bei Herscheid nachgewiesen“ werden konnten. „Es handelt sich um das einzige Rudel in der gesamten Region“, bekräftigt LANUV-Sprecher Wilhelm Deitermann jetzt auf Anfrage der WESTFALENPOST die Einzigartigkeit des Sauerland-Rudels.
Standorttreue Wölfin mit der Kennung GW2856f
Und: Es gebe momentan keine Belege für weitere „standorttreue, territoriale Tiere“ innerhalb des Wolfsgebietes Märkisches Sauerland „oder in den angrenzenden Regionen“. Einzelne Nachweise von Wölfen weisen nach seiner Darstellung auf „wandernde Tiere“ hin.
- Erste Wölfin hat sich im Sauerland niedergelassen
- Wenn der Wolf plötzlich in einer Schafherde steht
- Wird das Sauerland zum Wolfsland?
Dem LANUV-Sprecher zufolge ist das „weibliche Elterntier mit der Bezeichnung GW2856f“ Teil des Rudels, der Vater der Jung-Wölfe im Sauerland ist unbekannt. Die aus einem Rudel in Visselhövede (Niedersachsen) stammende Wölfin wurde im September 2022 erstmals im Märkischen Kreis genetisch nachgewiesen - nach einem Nutztierriss bei Lüdenscheid (vier tote und mehrere verletzte Schafe) - mithilfe einer Labor-Analyse im Senckenberg Forschungsinstitut Gelnhausen.
Nachweise gab es in dem darauffolgenden halben Jahr mehrfach, sodass die Fähe als standorttreu im Territorium Ebbegebirge eingestuft wurde. Daraufhin wurden Teile des Märkischen Kreises und die Stadt Attendorn im Kreis Olpe im September 2023 als Wolfsgebiet „Märkisches Sauerland“ ausgewiesen. Beim LANUV wird jetzt mit Blick auf Wolfsgebiete der Begriff „Förderkulisse“ verwendet. Jedenfalls hat die Förderkulisse Märkisches Sauerland nach Angaben von Deitermann eine Größe von 775 Quadratkilometern, „ein Wolfsrudel besetzt davon innerhalb seines Territoriums etwa 200 Quadratkilometer“.
Herdenschutzmaßnahmen werden gefördert
Die Ausweisung als Förderkulisse führt laut LANUV dazu, dass Nutztierhalter wie Schaf- oder Rinderzüchter in diesen Gebieten eine „100-prozentige Förderung von wolfabweisenden Herdenschutzmaßnahmen beantragen können“.
GW2856f - diese Zahlen-Buchstaben-Kombination kann Eberhard Kaufmann im Schlaf aufsagen. Der Vorsitzende des Damwildrings Herscheider Mühle und CDU-Fraktionsvorsitzende im Rat der Gemeinde Herscheid hat nicht nur die Wildkamera-Aufnahme aus der Nacht vom 27. auf den 28. August 2024 auf seinem Handy gespeichert – auch weitere Videos und Fotos von der Sauerländer-Wölfin und ihrem Rudel.
Einzeltiere von Fotofallen erfasst
Erst vor eineinhalb Wochen hat seine Fotofalle im Wald den Kopf und Brustkorb eines Wolfes aufgenommen. „Seit Ende August haben Wildkameras an verschiedenen Stellen im Forst rund um Herscheid und Plettenberg Wölfe erfasst, allerdings immer Einzeltiere“, sagt er.
„Auf Weiden bekommt man naturgemäß jeden Wolfsriss mit, im Wald nicht. Ich gehe von einer hohen Dunkelziffer aus.“
Kaufmann zufolge ist der Wald rund um Herscheid ein Damwildgebiet. Wenn man so will, ein reich gedeckter Tisch für Wölfe. Allerdings: „Auf Weiden bekommt man naturgemäß jeden Wolfsriss mit, im Wald nicht“, so der Sauerländer, „ich gehe von einer hohen Dunkelziffer aus.“ Sehr wohl bemerkten die Jäger in ihren Revieren bereits ein verändertes Wildtierverhalten: „Die wissen genau, dass Wölfe im Wald sind und stehen entsprechend enger zusammen.“
Und da greifen die Gesetze der Natur, wie Kaufmann es ausdrückt: „Eine Population wächst, wenn viel Nahrung vorhanden ist“, sagt der Sauerländer und denkt schon weiter. „Noch finden Wölfe reichlich Damwild bei uns. Aber was ist, wenn immer mehr Wölfe den Damwild-Bestand merklich verkleinern? Werden sie bei ihrer Futtersuche dann zunehmend zur Gefahr für Nutztiere und womöglich für Menschen?“
Verunsicherung in der Bevölkerung
Jedenfalls ist die Verunsicherung in Teilen der Bevölkerung seit der Bestätigung des ersten Rudels im Sauerland nicht geringer geworden. „Schaf- und Rinderzüchter sind natürlich in größter Sorge“, sagt Mathias Dunkel, Leiter des Hegerings Herscheid, und ergänzt: „Ich weiß von Hundehaltern, die abends nicht mehr in Waldnähe unterwegs sind. Und von Spaziergängern und Joggern, die nur noch in Gruppen in den Wald gehen.“ Auch tagsüber seien Wölfe bereits gesehen worden. „Von aggressivem Verhalten gegenüber Menschen hat allerdings glücklicherweise noch niemand berichtet.“
LANUV-Sprecher Deitermann betont, dass vom Wolf „in der Regel“ keine Gefahr für den Menschen ausgehe. „Das natürliche Verhalten von Wölfen ist, dem Menschen auszuweichen.“ Und ergänzt: „Sollte ein Wolf von diesem Verhalten abweichen und sich aktiv dem Menschen nähern, wäre das kein natürliches Verhalten mehr und ein Grund für eine Entnahme.“ Mit Entnahme wird die Tötung eines Tieres bezeichnet.
Diese Sichtweise unterstützt auch der Naturschutzbund Nabu: Die Sicherheit des Menschen stehe an erster Stelle, heißt es von dort, „sodass im Notfall auch der Abschuss eines auffälligen Wolfes gerechtfertigt ist“. Allerdings zeige eine Studie des Norwegischen Instituts für Naturforschung, dass „trotz steigender Wolfspopulation das Risiko eines Wolfsangriffs sehr gering“ sei.
Im Jahr 2015 war erstmals wieder ein Wolf im Sauerland gesichtet worden. Der letzte davor war 1811 mit einem Schuss aus einer Waffe in Schmallenberg-Oberfleckenberg erlegt worden.
EU will an den Schutzstatus
Und anno 2024? Ende September wurde bekannt, dass die EU-Länder den Schutzstatus des Wolfs senken und damit mehr Abschüsse erlauben wollen. James Brückner vom Deutschen Tierschutzbund kritisiert dies scharf: „Die Rückkehr des Wolfes ist ein großer Erfolg für den Artenschutz, für den der hohe Schutzstatus maßgeblich verantwortlich war. Nun das Rad zurückzudrehen, weil begleitende Managementmaßnahmen zum Schutz von Weidetieren vernachlässigt wurden, wäre ein Armutszeugnis.“
Heiko Cordt ist Wolfsberater und wurde unter anderem am 21. August nach Herscheid gerufen. Ein „Nutztierriss“, wie es in der Behördensprache heißt. Die Bilanz laut der LANUV-Internetseite wolf.nrw: „Herde ausgebrochen; 3 Schafe tot; 1 Schaf verletzt; 3 Schafe verschwunden“. Kein schönes Bild, erinnert sich Cordt: „Der Anblick der angefressenen Tiere ging durch Mark und Bein.“
Und doch warnt der Sauerländer vor „Panikmache“ und „Rotkäppchen-und-der-böse-Wolf“-Gedanken. Es gebe in der Region keine Anzeichen dafür, dass es der „scheue Wolf“ auf Menschen abgesehen hat: „Wenn ich im tief verschneiten Yellowstone Nationalpark wäre und die Wölfe angesichts der Wetterlage kein Futter fänden, würde ich mir eher Gedanken machen.“
Ein zweites Wolfsgebiet im Sauerland
Zurück ins Sauerland: Seit diesem Sommer gibt es neben der „Förderkulisse Märkisches Sauerland“ ein zweites offizielles Wolfsgebiet: die „Förderkulisse Oberer Arnsberger Wald“. Das Gebiet umfasst Teile des Hochsauerlandkreises und des Kreises Soest. Im Arnsberger Wald wurde die Wölfin mit der Kennung GW3199f mehrfach genetisch nachgewiesen. „GW“ bedeutet „German Wolf“, das „f“ steht für feminin (weiblich).
Das LANUV geht davon aus, dass der weibliche Abkömmling aus dem sächsischen Wolfsterritorium Gohrischheide im Arnsberger Wald standorttreu geworden ist. Dass die Wölfin bereits Junge zur Welt gebracht und damit ein Rudel gegründet hat - darüber liegen dem Landesamt keine Erkenntnisse vor.
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