Solingen. Scholz ist zornig, Wüst staatsmännisch, die Stadt geschockt: Über einen politischen Kondolenzbesuch in der Migrationsdebatte.
Kurz bevor der Kanzler am Montagmorgen erstmals am Solinger „Fronhof“ zur Öffentlichkeit sprechen will, schreien hinter der Polizeiabsperrung plötzlich Menschen aufgeregt „Arzt! Ein Arzt“. Man denkt: „Nicht schon wieder.“ Im Pulk der Passanten, die Olaf Scholz beim Trauerbesuch in dieser gelähmten Stadt erleben wollen, ist jemand umgekippt. Ansatzlos, einfach so. Keine 150 Meter von den großen dunklen Flecken auf den Pflastersteinen entfernt, die an den blutigen Freitagabend erinnern.
Der Kanzler, der von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) begleitet wird, verschiebt kurzerhand seinen Medienauftritt. So lange, bis der Rettungseinsatz beendet ist. Jetzt nur keine Pietätlosigkeit zeigen an diesem schlimmen Ort, der mutmaßlich den IS-Terror zurückgebracht hat nach Deutschland.
Es vergeht eine halbe Stunde. Dutzende Medienvertreter aus dem In- und Ausland müssen warten. Sie bekommen mit, wie hinter dem rot-weißen Flatterband bereits über Lehren aus dem mörderischen Anschlag auf das Solinger Stadtfest gestritten wird. „Ich kann Ihr Geschwätz nicht mehr hören. Dann wählen Sie doch die AfD“, ruft ein älterer Herr zwei anderen Schaulustigen zu, die sich gerade über Flüchtlinge und Politikversagen auslassen. „Mach ich auch“, kontert einer der Angesprochenen trotzig.
Solinger Stadtfest-Organisator „angeekelt“ von politischer Instrumentalisierung
Dass ein 26-jähriger Syrer morden konnte, obwohl er längst sein Asylverfahren in Bulgarien hätte durchlaufen müssen und sich in NRW offenbar allzu simpel seiner Abschiebung entzog – das strapaziert selbst die Toleranz von „ganz normalen“ Leuten.
Schon als der Tross um Scholz am Morgen zur evangelischen Stadtkirche geht, um an der Gedenkstätte für die drei Erstochenen weiße Rosen niederzulegen, begleiten ihn vereinzelt Rufe, die man nicht genau verstehen, aber eher als Unmutsäußerungen interpretieren kann. Im Blumenmeer steht gleichwohl auch ein Pappschild mit der Aufschrift: „Unsere Zivilgesellschaft halten wir hoch.“
Philipp Müller fühlt sich zweieinhalb Tage nach den Morden „angeekelt“ davon, wie die Stadt missbraucht werde, um „politische Süppchen“ zu kochen. Die Stimmung sei „unglaublich gedrückt“, sagt er. Müller gehört zu den Organisatoren des Stadtfestes und hatte am Freitagabend auf der Bühne am „Fronhof“ die schwierige Aufgabe, die feiernde Menge nach Hause zu schicken, ohne sie in Panik zu versetzen.
Müller ist ein freundlicher Mann mit grauem Pferdeschwanz und Baskenmütze, der nicht möchte, dass seine Heimatstadt zum Symbol oder Wendepunkt im Meinungsklima des Landes wird. Gleichwohl hat er in den vergangenen Tagen mit vielen Solingern gesprochen und berichtet: „Es schwingt mit, dass wir politische Antworten brauchen.“
Wüst verspricht: Mögliche Abschiebefehler werden klar benannt
Scholz und Wüst sind an diesem Tag gekommen, um sie zu geben. Oder zumindest gegen die politische Ohnmacht anzureden. Der sonst so unterkühlt auftretende Kanzler sagt, er sei „wütend“ und „zornig“. Sein Zorn gelte den Islamisten, die das friedliche Zusammenleben der Kulturen gefährdeten. Im Hintergrund flackert ein Grablicht, das auf eine Leinwand projiziert wird. „Wir werden uns diesen Zusammenhalt nicht kaputt machen lassen von bösen Straftätern und schärfer gegen sie vorgehen“, versichert Scholz.
Nur wie? Die Ankündigung von Konsequenzen gehört nach Anschlägen mittlerweile zum erweiterten Kondolenzgruß der Politik. Scholz kündigt diesmal an, Messerverbote schnell zu verschärfen. Zudem verweist er darauf, man habe bereits „die Möglichkeiten massiv ausgeweitet“, abgelehnte Asylbewerber abzuschieben. Es gebe in diesem Jahr eine Steigerung der Rückführungen um 30 Prozent.
In gewohnter Scholz-Umständlichkeit öffnet sich der Kanzler für weitere Abschiebeerleichterungen: „Wir werden ganz genau gucken, wie wir notfalls mit rechtlichen Regelungen, die wir aus der Praxis als erforderlich ansehen, aber auch mit konsequenter praktischer Vollzugstätigkeit dazu beitragen, dass wir diese Zahlen noch weiter erhöhen können.“
Für sogenannte „Dublin-Fälle“, also die Rückführung innerhalb der EU, will er „eine Task Force etablieren, die das genau studiert“. Manches werde europarechtlich geändert werden müssen.
Neue Lagebewertung könnte Abschiebungen nach Syrien erleichtern
Ministerpräsident Wüst beschwört derweil im schwarzen Anzug den Zusammenhalt der politischen Ebenen. Die bitteren Tränen der Ersthelfer, mit denen Scholz und er gerade lange gesprochen haben, scheinen politische Schuldzuweisungen irgendwie unangemessen erscheinen zu lassen. Anders als sein Parteichef Friedrich Merz („Es reicht!) arbeitet sich Wüst nicht schäumend an der Ampel ab, sondern gibt sich in der Trauer wohltuend staatsmännisch: „Ich bin dem Bundeskanzler dankbar für sein heutiges Kommen als Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls mit den Opfern dieses Terrorakts.“
Eher allgemein fordert Wüst: „Ankündigungen allein werden nicht reichen.“ Eine neue Lagebewertung der Bundesregierung müsse her, die auch Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien erleichtern würde.
Wüsts Defensive erklärt sich womöglich damit, dass seiner schwarz-grünen Koalition eine Debatte über Behördenfehler bei der Abschiebung des Attentäters ins Haus stehen dürfte. „In dem konkreten Fall werden wir schauen, ob alles richtig gelaufen ist. Wenn was schiefgelaufen ist, muss das auch klar benannt werden. Das ist völlig klar“, kündigt Wüst schon mal an.
Solingens Oberbürgermeister Kurzbach, der auch noch als Beschuldigter ein Verfahren im „Luxusschleuser-Skandal“ um Visa-Erteilungen an vermögende Chinesen am Bein hat, ist plötzlich als Kümmerer und Krisenmanager gefragt: „Wir sind noch lange nicht durch mit dem Schrecken der Ereignisse hier.“ Er stößt eine Bitte aus, die sich wohl nicht so schnell erfüllen wird: „Lasst uns zur Ruhe kommen.“