Hagen. Museumsdirektor Rainer Stamm will die berühmten Hagener Expressionisten aus dem Depot befreien. Warum ihre Herkunft so wichtig ist.

Er hat als erster Kunsthistoriker die Homosexualität von Karl Ernst Osthaus wissenschaftlich untersucht und die Nazi-Verstrickungen von Gertrud Osthaus offen gelegt. Nun ist Prof. Dr. Rainer Stamm der neue Direktor des ehrwürdigen Osthaus-Museums in seiner Heimatstadt Hagen. Die Aufgabe ist schwierig, denn die Stadt hält ihr museales Aushängeschild an einer finanziell extrakurzen Leine. Doch der anerkannte Museumsmann Stamm nimmt den Ball auf. „Das Museum soll wieder ein identitätsstiftender Ort werden. Ich möchte über die Schätze, die wir hier haben, wieder ein Selbstbewusstsein für Stadt und Region stärken.“

Die finanzielle Austrocknung des Museums hat unter anderem zur Folge, dass es keinen Tag mit freiem Eintritt gibt. Im Museum Folkwang in Essen beispielsweise ist an allen Öffnungstagen der Eintritt in die ständige Sammlung frei. Die Besucherzahl hat sich dadurch vervielfacht. In Hagen sucht Rainer Stamm nun nach Sponsoren, um wenigstens Menschen unter 18 Jahren einen kostenlosen Museumsbesuch zu ermöglichen. „Es geht darum, Hemmschwellen abzubauen, Neugierde zu wecken. Diese Sammlungen gehören den Bürgerinnen und Bürgern. Das sichtbar zu machen, ist mir sehr wichtig.“

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Entsprechend soll die berühmte Sammlung in den Mittelpunkt der Museumsarbeit rücken, und zwar in mehrfacher Hinsicht. „Die internationalen Spitzenwerke müssen aus dem Depot befreit werden“, verspricht Stamm. Die weithin gerühmten Hagener Expressionisten sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, denn die frühere Museumsdirektorin Herta Hesse hat sie erworben, um ein Trauma zu heilen. Das Museum Folkwang, das Karl Ernst Osthaus aufgebaut hatte, ging mitsamt seiner Gauguins, Cézannes und van Goghs nach dessen Tod 1921 aus Hagen nach Essen. Bis heute gilt es als das „schönste Museum der Welt“, so der MoMA-Mitbegründer Paul J. Sachs 1932 in Essen. Trotz des Verlustes blieben bedeutende Werke in Hagen, vor allem von Christian Rohlfs. Zweimal plünderten dann die Nazis das Haus ab 1933. Herta Hesse gelang ab 1945 der Neuanfang. Sie baute ein Konvolut von expressionistischen Meisterwerken auf, das heute als eines der schönsten in Deutschland gilt.

„Ich möchte nicht, dass wir uns mit Werken schmücken, die eine Raubgeschichte haben.“

Prof. Dr. Rainer Stamm, Direktor des Osthaus-Museums Hagen

Aber nicht für jedes Bild ist seine Geschichte erforscht. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Raubkunst im Osthaus befindet, so wie der Renoir, der 2023 an die eigentlichen Besitzer restituiert und anschließend für Hagen neu erworben wurde. Das will Stamm aufklären. „Die Provenienzforschung soll in den nächsten Jahren kontinuierlich und systematisch erfolgen. Wir sind schon im Gespräch mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste“, so der Museumsdirektor. „Ich möchte nicht, dass wir uns mit Werken schmücken, die eine Raubgeschichte haben.“ Außerdem will Rainer Stamm das Museum ins digitale Zeitalter führen. „Wir wollen eine gute Museumsdatenbank installieren, mit der wir die Sammlung demnächst auch online sichtbar machen können, angefangen mit Christian Rohlfs.“

Eines der bekanntesten Werke aus der Sammlung des Osthaus-Museums in Hagen: Alexej von Jawlensky „Mädchenkopf mit rotem Turban und gelber Agraffe“, entstanden um 1912.
Eines der bekanntesten Werke aus der Sammlung des Osthaus-Museums in Hagen: Alexej von Jawlensky „Mädchenkopf mit rotem Turban und gelber Agraffe“, entstanden um 1912. © WP | Michael Kleinrensing

Das heutige Osthaus Museum war bei seiner Eröffnung 1902 das weltweit erste Museum, in dem moderne Kunst gezeigt wurde. Aber nicht nur. Es war auch das erste Museum, das Weltkunst aus Afrika, Asien und Ozeanien mit den Arbeiten zeitgenössischer Künstler zusammen präsentierte. „Wir haben ein fantastisches Identifikationsangebot mit der Gründungsgeschichte durch Osthaus, das ist ein weltweit anerkanntes Alleinstellungsmerkmal. Das ist auch ein großartiger Anknüpfungspunkt für unsere Arbeit: Geschichten erzählen, über die Sehnsucht nach Schönheit, darüber, wie wir in einer postindustriellen Region eigentlich leben wollen“, so Rainer Stamm.

Ein Meisterstück aus der Sammlung des Hagener Osthaus-Museums: August Mackes  „Helle Frauen vor Hutladen“ aus dem Jahr 1913.
Ein Meisterstück aus der Sammlung des Hagener Osthaus-Museums: August Mackes „Helle Frauen vor Hutladen“ aus dem Jahr 1913. © WP | Michael Kleinrensing

Allerdings hat sich die Wahrnehmung von Kunst und Künstlern heute verändert, weg von einer anbetenden Haltung hin zur kritischen Hinterfragung. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Emil Nolde ist ein Beispiel dafür. Osthaus war ein früher Förderer des nordfriesischen Malers; das Osthaus-Museum besitzt 16 Arbeiten von Emil Nolde, darunter vier große Gemälde. „In meiner Generation ist es einfacher, sich diesen Themen zu stellen“, analysiert Stamm, „weil wir am Beispiel Emil Noldes gesehen haben, wie notwendig diese Aufarbeitung ist. Das Werk ist durch eine solche Aufarbeitung nicht entwertet. Das Drama bei Nolde ist, dass er 1945 nicht gelernt und verstanden hat, sondern bis zu seinem Tod an seiner Nazi-Überzeugung festgehalten hat. Das sind Dinge, die unsympathisch sind und bleiben, die aber das Werk nicht schlechter machen.“ Den Widerspruch, dass das Werk herausragend, der Künstler aber problematisch sei, müsse man lernen auszuhalten.

Damit verweist Rainer Stamm auch auf den Fall des Hagener Künstlers Erwin Hegemann, dessen 100. Geburtstag das Osthaus-Museum vor dem Amtsantritt von Museumsdirektor Stamm mit einer Retrospektive ehrte. Die Naziverstrickungen Hegemanns wurden in dieser Ausstellung nicht thematisiert. Auch das soll aufgearbeitet werden. Der Historiker Prof. Dr. Christoph Zuschlag vom Kunsthistorischen Institut Bonn wird die Quellen aus dem Stadtarchiv auswerten. Stamm: „Es würde mich sehr verwundern, wenn es bei Hegemann bleibt. Es mag auch andere Hagener Künstler gegeben haben, die aus den unterschiedlichsten Gründen mit den Nazis kollaboriert haben. Dass da nachgearbeitet werden muss, liegt auf der Hand.“

Derzeit zeigt das Osthaus-Museum bis 10. November die Jubiläumsausstellung „100 Jahre Hagenring“. Außerdem sind jetzt in allen Sälen die Meisterwerke der Sammlung zu sehen. www.osthausmuseum.de