Hagen. Die illegale Droge ist mittlerweile stets und immer verfügbar. Ein Hagener spricht über einen Teufelskreis, dem viele verfallen sind.

Der Mann, den alle nur Mulle nennen, muss kurz überlegen. Natürlich sei da tief in ihm drin diese Stimme, die ihm sagt, dass das so richtig gut nicht sein kann, was er da tut. „Mir ist schon klar, dass ich das nicht ewig machen kann. Ich fühle mich aber nicht abhängig. Und ich habe nicht das Gefühl, etwas Schlimmes zu tun“, sagt er. Eher im Gegenteil: „Kokain ist fast schon gesellschaftsfähig geworden. Ich kenne so viele, die ballern.“ Das ist das Wort, das er dafür benutzt: ballern. Überall, sagt er, werde gekokst, würden Lines gezogen. „Mir macht es einfach Spaß.“

Mulle ist 30 Jahre alt, kommt aus Hagen. Er hat eine Frau, ein abgeschlossenes Studium, ein Zuhause in einer netten Gegend und Erfolg im Beruf. Das soll auch so bleiben, deswegen will er nicht mit seinem richtigen Namen in der Zeitung stehen. Mulle ist der Typ von nebenan. Aber er ballert eben manchmal. „Kokain, sagt er, „kriegst du mittlerweile immer, wenn du willst.“ Was früher Haschisch war, ist heute Koks. Nimmt man eben mal, kein Ding, so scheint es. „Solange ich mein Leben im Griff habe, ist das keine große Sache.“ 

Europa wird überschwemmt von Kokain

Tatsächlich ist Kokain längst eine große Sache. Europa wird schon länger geradezu überschwemmt mit dem Rauschgift, von einem Tsunami ist mitunter sogar die Rede. In diesem Monat erst wurde ein Coup der Ermittler öffentlich: 35,5 Tonnen Kokain wurden unter anderem in den Häfen von Rotterdam und Hamburg beschlagnahmt. Verkaufswert: 2,6 Milliarden Euro. Auswirkungen auf den Markt? Keine.

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Die Polizei verzeichnete 2023 bei keinem Rauschmittel einen so hohen Anstieg von Handelsdelikten wie bei Kokain: plus 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, heißt es im Lagebericht des Bundeskriminalamtes (BKA). Trotz neuer Rekorde bei den Sicherstellungen seien die Qualität des Stoffs auch im Straßenhandel hoch und die Preise stabil. „Es ist deshalb davon auszugehen, dass trotz hoher Sicherstellungsmengen weiterhin eine ausreichende Menge Kokain den deutschen Konsumentenmarkt erreicht.“

Zum Beispiel Dortmund: In den Abwasseranalysen auf Drogenrückstände, die die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht regelmäßig anfertigt, belegt Dortmund stets Top-Plätze.

Ein Gefühl der Euphorie stellt sich ein

Vor zehn Jahren ist Mulle erstmals mit Kokain in Verbindung gekommen. Ein Kommilitone hatte was dabei. Er machte mit. Kokain konsumiert er „anlassbezogen“, wie er sagt. „Wenn ich mit Freunden drei, vier Bier trinke, dann mache ich das nicht.“ Wenn aber Partynächte anstehen, dann wird auch schonmal geballert: um die Müdigkeit zu bekämpfen, um mehr trinken zu können, um sich besser zu fühlen. „Es stellt sich ein Gefühl der Euphorie ein, alles ist intensiver, aufregender“, so beschreibt er das. Und offenbar ist das unter Leuten seines Alters oder jünger nichts mehr, für das man gesellschaftliche Ächtung erfahren würde.

„Wenn du dich am Ballermann umschaust – da findest du immer jemanden, der sich auf dem Klo eine Nase zieht. Das war früher nicht so.“

Mulle (30)
Kokain-Konsument

„Ich kenne so viele Leute, die das regelmäßig nehmen. Auch Leute, bei denen man das nie gedacht hätte“, sagt er. Leute aus der Gastronomie – Kellner, Wirte, Köche – nähmen es. Seit sechs Jahren, sagt er, gehöre Koks für ihn zu einem besonderen Party-Abend mit dazu. „Koks ist in der Gesellschaft längst angekommen. Sowohl die Verfügbarkeit als auch die Konsumentenzahl sind drastisch angestiegen. Wenn du dich am Ballermann umschaust – da findest du immer jemanden, der sich auf dem Klo eine Nase zieht. Das war früher nicht so.“ 20 von 100 Partygästen nähmen es, schätzt er. Schwer zu belegen. Schwer zu widerlegen. „Das ist nichts mehr, für das man sich genieren müsste.“ Mulles Freunde wissen Bescheid, vor der Familie versucht er, es zu verheimlichen.

Warnung vor „extremem Abhängigkeitspotenzial“

Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) birgt der Konsum etwa von Kokain sehr hohe Risiken. „Die größte Direktgefahr neben dem extremen Abhängigkeitspotenzial geht von der Irreführung des Organismus aus: Die Drogen peitschen den Körper zwar zu Höchstleistungen an, führen ihm dabei aber keinerlei Energie zu. So werden sehr schnell alle Energiereserven verbraucht“, erklärt die zentrale Dachorganisation der deutschen Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe.

Die Wirkung der Droge lasse rasch nach und verführe dann dazu, immer wieder „nachzulegen“. Mit jeder Dosis stiegen jedoch die Risiken. „Diese totale Überbeanspruchung des Körpers“ könne auch bei seltenem oder nur einmaligem Konsum sehr starke Nebenwirkungen haben. Genannt werden beispielsweise Krampfanfälle mit Muskelzuckungen, Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma, gesteigerte Aggressivität, Wahnvorstellungen, Atemversagen durch Lähmung des Atemzentrums, Herzinfarkt, Herzklopfen und Bluthochdruck oder aber ein „Kokainschock“ mit starkem Blutdruckabfall, der in einem tödlichen Kreislaufzusammenbruch enden könne.

Zudem könne man sich beim „Kokain-Sniefen“ durch scharfkantige Röhrchen an der empfindlichen Naseninnenseite verletzen oder, beim Injizieren der aufgelösten Substanz, durch Verwendung fremder Spritzen mit HIV und Hepatitis infizieren. Bei dauerhaftem Gebrauch seien körperliche, psychische und soziale Folgeschäden möglich. Vor einer Kokain- oder Cracksucht sei kein Konsument geschützt. „Die Gefahr einer Abhängigkeit umgeht man nur durch Verzicht“, so die DHS.

Ein halbes Gramm Kokain ergibt 15 bis 20 Lines

Mulle sagt, dass er für einen guten Abend nicht viel brauche: ein halbes Gramm etwa. 15 bis 20 Lines kann er daraus legen. Zwischen 50 und 100 Euro kostet ihn das. Und drankommen, drankommen sei nun wirklich kein Problem. Kontaktmänner hat er genug. „Wenn ich was brauche, schicke ich denen eine Nachricht per Handy. Und dann wird mir das nach Hause oder direkt in den Club geliefert“, sagt Mulle. Übergabe dann zum Beispiel im Auto. „Die sind 24 Stunden am Tag verfügbar.“ Einer sei der Chef, der die Kurierfahrer losschickt.

„Ich behaupte, dass man auf jeder Party jemanden ansprechen kann.“

Mulle (30)
Kokain-Konsument

Das BKA sieht in diesem Ablauf einen Trend. „Vermehrt wird der Handel von Rauschgift auch über Messenger-Dienste festgestellt“, heißt es im Lagebericht 2023: „Die große Nutzerzahl von Messenger-Diensten und die dortige umfangreiche Auswahl an Betäubungsmittelangeboten spricht möglicherweise Personenkreise an, die vorher keine Berührungspunkte zum Drogenkonsum hatten.“ Eine andere Möglichkeit, an den Stoff zu kommen, ist die Lieferung per Postversand: schnell und unauffällig im Onlinehandel anonym erworben und über seriöse Paketzusteller geliefert.

Immer wieder will man das Hochgefühl haben

Zur Not geht es aber auch analog, sagt Mulle. „Ich behaupte, dass man auf jeder Party jemanden ansprechen kann.“ Er sähe es vielen Leuten an, wenn sie geballert hätten: Manche, sagt er, beißen sich auf die Lippe. Das seien die, die sich das Koks aufs Zahnfleisch reiben. Der Mund fühle sich dann wie taub an, als wäre man beim Zahnarzt gewesen und hätte eine Spritze bekommen. Andere entwickeln nervöse Ticks. Solche Leute könne man ansprechen.

Kokain ist eine Droge, die erhebliche Nebenwirkungen hervorruft. Mögliche Folgen: Herzanfall, Hirninfarkt, bei Überdosierung Tod. Viele Abhängige steigen in die Beschaffungskriminalität ein.

Das Problem an Koks sei dieses umfassende Hochgefühl, das man immer wieder erleben wolle, sagt Mulle. Gerade Leute, in deren Leben es gerade nicht gut läuft, könnten das mit Kokain ausblenden. Und da beginne der Teufelskreis. „Das ist aber nicht mein Motiv“, sagt Mulle, „ich mache das nur, weil es Bock macht. Ich habe das im Griff.“

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