Meinerzhagen. In einem Wahlbezirk in Meinerzhagen holen die Rechtspopulisten 40 Prozent. Was der Fall des getöteten Filipp damit zu tun haben könnte.

Sie habe das befürchtet, sagt Vicky Marschnig und schüttelt den Kopf. „Man überlegt sich dann zukünftig schon, wen man da vor sich hat“, sagt die 44-Jährige. Sie lebt in Meinerzhagen, oberhalb, auf einer Anhöhe, wo die Hecken aus Kirschlorbeer vor den vielen Ein- und Zweifamilienhäusern akkurat getrimmt sind, wo Geländewagen in der Einfahrt stehen, wo Deutschlandfahnen wehen. Ist ja bald EM. Die Straßen sind nach Dichtern und Denkern benannt.

In einem Meinerzhagener Wahlbezirk liegt die AfD bei mehr als 40 Prozent

Wer da oben wie Vicky Marschnig wohnt, gehört dem Wahlbezirk Rothenstein an, in dem die AfD bei der Europawahl am Sonntag mehr als 40 Prozent der Stimmen holte. Im gesamten Meinerzhagener Stadtgebiet waren es 21,5 Prozent, eines der Top-Ergebnisse in NRW. Nirgendwo in Südwestfalen war der Zuspruch größer als in der 21.000-Einwohner-Stadt im Märkischen Kreis, in dem die AfD zweitstärkste Partei hinter der CDU wurde. Meinerzhagen – ein Ort im Sauerland als das Sinnbild des rechtspopulistischen Aufschwungs? Spurensuche am Tag danach.

„Erschreckend“ – das ist das Wort, das Vicky Marschnig verwendet, wenn sie an die AfD-Zahlen der Europawahl denkt. Es sind ihre Nachbarn, die Menschen in dem gesamten Wohngebiet, die dieses außergewöhnliche Ergebnis möglich gemacht haben. „In meinem entfernten Bekanntenkreis höre ich immer wieder die typische AfD-Propaganda. Die Zahlen zeigen, dass es offenbar genug Leute gibt, die das einfach als ihre Meinung übernehmen, ohne sich größere Gedanken darüber zu machen.“ Das sei zumindest ihr Eindruck.

„„Mir ist das Ergebnis der AfD noch zu schwach.“ “

Ein Meinerzhagener, der die AfD gewählt hat

Bürgermeister Jan Nesselrath (CDU) ist am Montag für eine Stellungnahme zu den Geschehnissen nicht zu erreichen. Im Rathaus soll aber ebenfalls Überraschung über das Ergebnis aus dem Wahlbezirk Rothenstein geherrscht haben. Die AfD ist nicht im Rat vertreten, es gibt nicht einmal einen Ortsverband. Ist die Unzufriedenheit in Meinerzhagen so groß?

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Es gibt einen hübschen Stadtpark mit Teich, in der Innenstadt eine Bücherei, mehrere Eiscafés, das Restaurant Anatolien und daneben die Fleischerei Hoffmann. Im ersten Stock weht eine Italien-Fahne, eine Straße weiter weist ein kleines Banner auf die 850-Jahr-Feier am Wochenende hin. Es soll ein Fest werden, bei dem das Gelingen und das Miteinander im Vordergrund steht. Aber manches gelingt eben auch nicht.

„Mir ist das Ergebnis der AfD noch zu schwach“, sagt der Mann, der ein Oberteil seines Lieblingsfußballklubs trägt. Er hat nach eigener Aussage die AfD gewählt – zum dritten Mal hintereinander. Sein Name soll nicht in der Zeitung stehen, weil er Verwerfungen im Betrieb fürchtet. „Ich arbeite mit Türken und Russen zusammen.“

Europawahl: Aus Protest die AfD gewählt

Grundsätzlich habe er nichts gegen Ausländer. „Aber das eigene Volk geht zugrunde und wir finanzieren auch die mit, die gar nicht arbeiten wollen oder hier Straftaten begehen“, fragt er. „Hier, da.“ Der Mann zeigt auf das Pflaster der Innenstadt, auf dem eine durchnässte weiße Serviette klebt. „Wer keine Arbeit findet, der soll Müll wegmachen. Oder im Winter Schnee schippen vor der Schule. Da gibt es genug Möglichkeiten.“

Sein Votum bei der Wahl will er ausdrücklich als Protest verstanden wissen, „um die hohen Herren mal wachzurütteln“. Meinerzhagen ist seine Heimat, da hat er gar nichts auszusetzen. „Ich wohne gern hier. Wir haben zwar auch einen hohen Ausländeranteil, aber das ist ok.“

„„Anhand der Zahlen merkt man, wie die Leute hier denken.““

Nicole Braune
Meinerzhagenerin

Nicole Braune (40) empfand den Blick auf die Zahlen des Wochenendes als erschreckend. „Anhand der Zahlen merkt man, wie die Leute hier denken“, sagt die Meinerzhagenerin. Der Gedanke gefällt ihr nicht, sie runzelt die Stirn. „Ob den Leuten bewusst ist, was es bedeutet, wenn die AfD so große Zustimmung hat?“

Vicky Marschnig, die Frau, die im 40-Prozent-Wahlbezirk wohnt, führt den Gedanken fort. „Viele setzen sich nicht ausreichend mit der deutschen Geschichte auseinander. Ich habe Sorge, dass sie sich in gewisser Weise wiederholen könnte.“ Sie sagt, dass sie ihr Wort erhebe, wenn es in ihrem Umfeld zu Äußerungen komme, die dem rechten Rand entspringen. Mit Corona habe ein Teil der Abspaltung angefangen. „Und die jüngere Vergangenheit hat vielleicht hier oben auch zu diesem Ergebnis beigetragen.“

Der Fall Filipp - und sein Einfluss

Was sie meint? Im Februar kam Filipp, ein 16 Jahre alter Junge, im Skaterpark in Meinerzhagen ums Leben – bei einem Streit zwischen Jugendlichen, von denen viele Migrationshintergrund gehabt haben sollen. Das erzählt man sich zumindest dort oben. Die Ermittlungen zum Fall waren im April noch nicht abgeschlossen. Die Familie, die kasachische Wurzeln hat, wohne in der Nähe, sagt Vicky Marschnig. Filipp besuchte die Städtische Sekundarschule am Schulzentrum Rothenstein. Dort war am Sonntag das Wahllokal aufgebaut. „Die Vorfälle aus dem Februar haben vielleicht bewirkt, dass viele hier nochmal anders über die Dinge denken.“