Meinerzhagen. Die Familie des Jungen aus dem Sauerland will Gerechtigkeit. Doch die Staatsanwaltschaft steht vor einer schwierigen Aufgabe.
Das Zimmer von Filipp, sagt sein Bruder, sehe immer noch so aus wie damals. Niemand sei bisher hineingegangen und habe gewagt, irgendetwas zu verändern seit jenem verhängnisvollen Tag. Es ist, als hoffte die Familie, dass das alles nur ein furchtbarer Alptraum ist, dass Filipp einfach irgendwann wiederkäme. Dabei wissen sie, dass das nicht passieren wird.
Filipp lebt nicht mehr. Der Junge, gerade 16 Jahre alt, starb Anfang Februar nach einem Streit unter Jugendlichen an der Skateranlage in Meinerzhagen im Märkischen Kreis. Sein Tod sorgte für Aufsehen in der ganzen Republik. Und er wirft noch immer Fragen auf. Fragen, die möglicherweise niemals ausreichend gut beantwortet werden können. Eine dieser Fragen: Könnte er noch leben, wenn rechtzeitig gehandelt worden wäre? Und: Wird womöglich am Ende niemand belangt werden für seinen Tod?
Getöteter Filipp in Meinerzhagen: Ermittlungen der Polizei sind jetzt abgeschlossen
Die Rekonstruktion der Ereignisse des 30. Januar ist derzeit Aufgabe der Staatsanwaltschaft Hagen. Ihr liegen die gesamten Ermittlungsergebnisse der Polizei wegen des Verdachts der Körperverletzung mit Todesfolge jetzt vor. Der zuständige Staatsanwalt muss in den kommenden Wochen bewerten, ob die Beweislage für eine Anklage ausreicht. Ausgang? Offen. Eine dieser Wahrheiten dieses Falls.
„In welcher Form das Verfahren abgeschlossen werden wird, kann zur Zeit noch nicht gesagt werden. Es liegen Aussagen von Beschuldigten wie auch von Zeugen sowie sonstige Beweismittel vor, die jetzt bewertet werden müssen“, sagt Gerhard Pauli, Sprecher der Staatsanwaltschaft in Hagen. „An dem Tatvorgang waren relativ viele Personen beteiligt, was die Aufklärung kompliziert.“
Unstrittig ist, dass es an der Skateranlage Streit zwischen unterschiedlichen Jugendgruppen gegeben hatte. Filipp soll nach einem Schlag zu Boden gegangen sein. Von weiteren Angriffen gegen den Kopf ist die Rede. Mit lebensgefährlichen Verletzungen kam er ins Krankenhaus, lag mehrere Tage im Koma, die Ärzte stellten den Hirntod fest. Die lebenserhaltenden Maßnahmen wurden am 9. Februar beendet.
Was den Ermittlern Rätsel aufgibt: Filipp erlag laut Obduktion schweren Hirnblutungen, doch Spuren massiver Gewalteinwirkung seien an seinem Leichnam nicht festzustellen gewesen. „Äußerlich waren bei dem Tatopfer – wenn überhaupt - nur minimale Verletzungen erkennbar, die den fatalen Verlauf nicht erklären konnten“, sagt Oberstaatsanwalt Gerhard Pauli. Dieses Rätsel gilt es zu lösen. Ein neuropathologisches Gutachten, das weitere Erkenntnisse liefern soll, ist deswegen derzeit in Arbeit.
Weitere Themen aus der Region:
- Wie es den wilden Wisenten nun im Gehege geht
- Mückenplage: Jetzt geht es zur Sache - 10 Tipps vom Experten
- CDU: Rechnungshof soll A-45-Brückenbauerbüro untersuchen
- Fernuni eröffnet virtuelle Lern- und Erlebniswelt
- Schock: Autozulieferer Hella baut 420 Jobs in Lippstadt ab
- „Stören die Brüste nicht?“ - Was Frauen im Handwerk erleben
- Der lauernde Feind: So gefährlich ist jetzt der Borkenkäfer
- Hagener kämpft im Segelboot: Nach drei Tagen erstmals gedöst
Zurück bleibt die Familie, allein mit ihrem Schmerz und ihren Fragen und ihrer Wahrheit. „Ich beginne jetzt erst zu verstehen, dass das kein Alptraum ist, dass das wirklich passiert ist. Meinen Eltern geht es nicht gut und ich weiß nicht, ob es je besser werden wird“, sagt Wilhelm (30), Filipps Bruder. Filipp war das jüngste von elf Kindern der Familie mit kasachischen Wurzeln, die nach Deutschland kam, um das Glück zu finden - und ins Unglück stürzte.
„Er wollte nur schlichten“, sagt Wilhelm (30). Das ist das, was ihm Leute erzählt haben, die dabei waren. Filipp, sagt er, sei ein ruhiger Junge gewesen, der Streit hasste. Vor drei Jahren kam er mit den Eltern nach Deutschland. Wenn er Ärger mit anderen Schülern gehabt habe, berichtet Filipp, habe er immer gesagt, dass er das allein schaffe.
Familie von Filipp kann nicht verstehen, dass es womöglich nicht zur Anklage kommt
„Was die gemacht haben, muss bestraft werden. Wir wollen vor allem eines: Gerechtigkeit“, sagt Wilhelm. Er klingt müde, traurig, verzweifelt. Er versteht nicht, wie das alles sein kann. „Wenn du deine Steuern nicht ordentlich zahlst, gehst du in den Knast. Wenn aber jemand bei einer Schlägerei stirbt und es womöglich keine Anklage gibt, dann stimmt doch etwas nicht.“ Hunderte Menschen kamen zur Beisetzung von Filipp. Sein Vater sagte dort, dass er den Tätern vergebe. Wilhelm kann das nicht, vielleicht noch nicht.
Aber vielleicht gibt es den klassischen Täter in diesem Fall auch gar nicht. Denn fraglich ist nach wie vor, ob die angeblich eher geringe Gewalteinwirkung ursächlich für den Tod des Jungen sein kann. Es ist ein Fall mit vielen Perspektiven und vielen subjektiven Wahrheiten.
War Mobbing ein Problem an Filipps Schule?
Ein Bild von Filipp, weiß gerahmt, war bei der Beisetzung neben dem Sarg auf dem evangelischen Friedhof Meinerzhagen platziert. Er schaut darauf arglos in die Kamera. Schon im vergangenen Sommer soll er unweit der Schule von anderen Jugendlichen angegriffen worden sein. Die Anzeige habe die Familie aber zurückgezogen, sagt Wilhelm, weil ein Täter sich entschuldigte.
Mobbing soll ein Problem an der Sekundarschule gewesen sein, die Filipp besuchte. Das jedenfalls sagt Carsten Stahl, ein Hüne aus Berlin, der den Kampf gegen Mobbing zu seiner Aufgabe gemacht hat, weil er nach eigener Aussage einst in Berlin-Neukölln selbst Opfer war, später dann Mittäter und Täter. Er reist durch ganz Deutschland, berät Schulen, hält Seminare.
Filipps Familie wendete sich an ihn, um Öffentlichkeit zu erzeugen und Unterstützung zu erfahren. Bevor Stahl zum wohl bekanntesten Anti-Mobbing-Aktivisten Deutschlands wurde, spielte er in einer Pseudo-Doku-Reihe auf RTL2 drei Jahre lang den muskelbepackten Chef einer Detektei. Er versteht es durchaus, sich ein- und in Szene zu setzen: „Filipp könnte noch leben, wenn an der Schule und von den Verantwortlichen der Stadt früher gehandelt worden wäre“, sagt Stahl. Das ist seine Wahrheit.
Experte: Schulen sind mit dem Thema Mobbing überfordert
Mobbing sei kein singuläres Problem der Sekundarschule in Meinerzhagen, sondern sei überall eines. Seit Jahren warne er davor, „dass immer mehr Kinder und Jugendliche immer brutaler und gewaltbereiter werden. Mobbing und Gewalt gibt es an allen Schulen in unserem Land, an einigen mehr und an anderen weniger. Schulen sind mit dem Problem überfordert - nur gibt das niemand gerne zu, um dem eigenen Ruf nicht zu schaden oder aus Hilflosigkeit. Dieses Totschweigen, dieses Wegsehen, dieses einfach Weitermachen muss endlich aufhören.“
Gab es an Filipps Schule Versäumnisse? Christiane Dickhut, Leiterin der Sekundarschule, wollte sich auf Anfrage dieser Redaktion nicht äußern und verwies an die Bezirksregierung Arnsberg. Diese kann Versäumnisse nicht erkennen: Dass sich diese Eskalation „mit Tätern und Anwesenden aus verschiedenen Schulen und Schulformen“ durch die Lehrkräfte oder die Schulleitung hätte vorhersehen lassen, „ist zu bezweifeln“, heißt es.
Im Zusammenhang mit der Tat haben Schüler die Schule gewechselt
Die Schulgemeinschaft, teilt die Bezirksregierung mit, lehne es aber „ausdrücklich ab, wenn Außenstehende ihr ihre Sicht der Dinge ungefragt aufdrängen wollen“. Carsten Stahl darf sich wohl angesprochen fühlen. Es gebe an der Sekundarschule Meinerzhagen bereits verankerte Präventionsprogramme gegen Gewalt und man unterstütze die Schule, bestehende Programme weiter zu ergänzen. Wichtige Grundlage für die Durchführung eines solchen Programms sei, „dass wir qualifizierte und zertifizierte Trainerinnen und Trainer mit der Durchführung beauftragen, deren Arbeit nachhaltig angelegt ist“. Carsten Stahl, soll das wohl heißen, hält die Bezirksregierung nicht für einen solchen.
Die Bezirksregierung bestätigt aber, dass im Zusammenhang mit der Tat „auch Schüler die Schule gewechselt haben“. Ordnungsmaßnahmen seien zwar rechtlich kompliziert und problematisch, da die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien und es sich um einen Vorfall außerhalb des Schulbetriebes handele. In intensiven Beratungen sei man aber mit den Erziehungsberechtigten zu diesem Entschluss gelangt.
Filipp bringt all das nicht zurück in sein Zimmer. Das ist die traurigste Wahrheit an diesem Fall.