Hagen. Es ist ein ungewöhnlicher Ansatz, ein ungewöhnlicher Ort: Ab jetzt führen Häftlinge durch eine Ausstellung. Was dahintersteckt.
Es ist nicht nur dieser Ort, der diese Ausstellung so besonders macht. Vielleicht ist es auch diese Parallele. Die Parallele, dass sie ihre Freiheit vermissen, so wie es die Familie Frank damals tat, als sie sich in Amsterdam vor den Nazis versteckt hielt. Sie - das sind Männer wie Vincent, Franz (72) oder Heiko (62). Sie sind nicht freiwillig hier in der Justizvollzugsanstalt, sie sitzen selbstverschuldet hinter Gittern. Vielleicht mag der Vergleich daher weit hergeholt klingen. Vielleicht aber ist es doch dieses gemeinsame Gefühl, das sie die Geschichte von Anne Frank so besonders weitergeben lässt. Denn die Häftlinge wurden vom Anne Frank Zentrum Berlin zu „Peer-Guides“ ausgebildet und werden ab jetzt in Hagen Besucher- oder Schülergruppen für eine Woche durch die Ausstellung „hinter Gittern“ führen.
Vielleicht ist es auch die Geschichte hinter diesem Ort, der Justizvollzugsanstalt, die dem ganzen zwar einen ungewöhnlichen Rahmen gibt, aber dennoch vor allem historisch eine Bedeutung hat. Denn das Nazi-Unrechtssystem hat auch vor Gefängnismauern keinen Halt gemacht. Es gab Todesurteile. Folter. Zwangssterilisationen. Leider wisse man bis heute viel zu wenig darüber, was sich damals hier abgespielt habe, sagt Stadtheimatpfleger Michael Eckhoff.
Anne Frank
Anne Frank (1929 in Frankfurt geboren) war eine deutsche Jüdin, die sich 1934 mit ihrer Familie vor den Nationalsozialisten in die Niederlande flüchtete. Als die Nazis die Niederlande überfielen, versteckte sich die Familie in einem Hinterhaus in Amsterdam in einem geheimen Unterschlupf. Dort schrieb Anne Frank ihre mittlerweile weltbekannten Tagebücher, die erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurden. Nach zwei Jahren im Versteck - 1944 - wurde die Familie verraten, mit anderen Untergetauchten in ihrem Unterschlupf entdeckt und verhaftet. Über ein Gefängnis in Amsterdam und das Durchgangslager Westerbork verschleppten die Nazis sie ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Anfang November 1944 kam Anne Frank mit ihrer Schwester zurück ins Konzentrationslager Bergen-Belsen, während ihre Eltern in Auschwitz blieben. Die Schwestern starben beide im Februar 1945 an den Folgen einer Krankheit.
Aber: „Ein Gefängnisarzt hat viele Insassen gemeldet, die daraufhin zwangssterilisiert wurden. Später wurde er Leiter des Gesundheitsamtes“, sagt Eckhoff und erinnert damit an das 1934 gebildete Erbgesundheitsgericht und das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933. Tausende Gräueltaten. Brutale Folter - vor der auch sein eigener Großvater als bekennender Nazi-Gegner nicht verschont blieb. Ihm wurden die Schneidezähne ausgetreten. Er wurde mit Stockschlägen malträtiert. Auch in der Hagener JVA? Das weiß man nicht. „Aber auch dieses Gefängnis hat, wie viele andere, eine Rolle im Nazi-Unrechtssystem gespielt.“
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Politische Bildung auch im Gefängnis
Ihre - also Anne Franks - Geschichte, steht stellvertretend für so viele Schicksale aus dieser dunklen Zeit. Ihre Tagebücher sind mittlerweile weltbekannt. Die Ausstellung soll die Erinnerungen an das Unrecht wach halten. Sie soll zum Nachdenken anregen - und auf diesem Wege auch Menschen erreichen, die vielleicht sonst nicht die Möglichkeit dazu haben. „Wir machen schon seit Jahren Angebote zur politischen Bildung in Gefängnissen“, sagt Roman Guski vom Anne Frank Zentrum. So wurden bereits mehr als 50 Ausstellungsprojekte im Jugend- und Erwachsenenvollzug durchgeführt. Auch die Sozialkompetenz soll dadurch geschult werden.
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Für die Häftlinge ist es mehr als nur eine Abwechslung vom Gefängnisalltag. „Ich wurde als Nachkriegskind geboren und habe schon als Kind erfahren, was für ein Unheil in dieser Zeit geschehen ist. Wir können und müssen den Leuten die Augen öffnen, damit so etwas nicht wieder passiert“, sagt Frank (72). Frank ist einer von sieben Peer-Guides in Hagen, die sich für das Projekt gemeldet haben. Genau wie sein Mithäftling Heiko (62). Auch er hat das zweitägige Seminar durchlaufen. „Wir hatten vorher Zeit, das Tagebuch zu lesen und uns auszutauschen - und haben schon andere Häftlinge durch die Ausstellung geführt“, erzählt der Mann. „Wir konnten zum Nachdenken anregen. Die Geschichte darf niemals vergessen werden.“
„Wir hatten vorher Zeit, das Tagebuch zu lesen und uns auszutauschen - und haben schon andere Häftlinge durch die Ausstellung geführt. Wir konnten zum Nachdenken anregen. Die Geschichte darf niemals vergessen werden“
Geschichte und Anregungen für Gegenwart
Diese Geschichte, sie wird in der Ausstellung („Lasst mich ich selbst sein.“) in acht Teilen erzählt: Die ersten Jahre in Frankfurt, die Flucht der Familie Frank vor den Nationalsozialisten, ihr Leben im Versteck in Amsterdam und die letzten Monate in den Konzentrationslagern Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen. Aber die Besuchergruppen sollen sich auch mit Fragen beschäftigen, die für die Gegenwart wichtig sind: „Wer bin ich?“, „Wer sind wir?“, „Wen schließen wir aus?“. Was kann man gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus bewirken? Auch für JVA-Leiter Jörg-Uwe Schäfer ein Herzensanliegen. „Es freut mich umso mehr, dass wir dieser besonderen Ausstellung hier einen Raum geben können.“
Einen Raum findet sie in der Kapelle der Justizvollzugsanstalt sowie auf einem Gang einer weiteren Etage. Die gesamte Woche über (ab 28. Oktober) ist nach Terminabsprache für Gruppen ab fünf Personen (max. 20 Personen) die Ausstellung kostenfrei besuchbar. Täglich sind zwei Termine jeweils von 8 bis 10 und von 10 bis 12 Uhr möglich. Besucher benötigen ein gültiges Ausweisdokument und müssen volljährig sein. Schulklassen sind in Begleitung von zwei Lehrerinnen bzw. Lehrern ab 16 Jahren zugelassen. Es gibt noch freie Termine. Eine Anmeldung ist per E-Mail an den pädagogischen Dienst unter poststelle@jva-hagen.nrw.de mit dem Betreff „Anne Frank Ausstellung“ (Bitte Namen, Gruppengröße und Telefonnummer angeben) möglich.