Hagen. Seit dem Hamas-Massaker kommt Juden Antisemitismus offen entgegen. In Hagen wurde vor drei Jahren ein Anschlag vereitelt. Das ist die Situation.

Zu gedenken ist die eine Sache. Wir steuern auf den 9. November zu und da finden im ganzen Land Erinnerungsveranstaltungen zu den furchtbaren Novemberpogromen 1938 statt, die auch in Hagen die Vorstufe des Holocausts darstellten. Ein grauenvolles Trauma für Millionen von Juden und ihre Nachkommen bis heute. Die Stadtredaktion Hagen wirft ihren Blick in einer Serie auf das, was jüdischen Menschen – auch in dieser Stadt – bis heute begegnet und nicht zuletzt durch das Hamas-Massaker am 7. Oktober im Süden Israels noch stärker aufflammt: Antisemitismus. Der Hass in Wort und Tat gegen jüdische Mitbürger und jüdisches Leben im Allgemeinen. Aber: in einem konstruktiven Geiste. Das Projekt „Unter einem guten Stern“, in Anlehnung an den Davidstern, das Symbol jüdischen Lebens, möchte den Hass nicht nur benennen. Es möchte verbinden.

Was ist geblieben von jenen Tagen, als diese Sätze Hagen erschütterten: „Das ist der beste Ort Bruder, viele werden sterben, und Autos werden brennen, so Gott will.“ Die Worte stammten aus einem Chat, den Ermittler ausgelesen hatten. Ein damals 17-jähriger Syrer aus Hagen hatte sie einem Mann namens „Abu Harb“ geschickt, der ihm online beim Bombenbau behilflich war und zu seiner weiteren Radikalisierung beitrug. Am 15. September 2021 wollte der 17-Jährige eine Bombe in der Hagener Synagoge zünden. Die Generalstaatsanwaltschaft war sich seinerzeit sicher, dass der Jugendliche in der Lage gewesen wäre, nach Beschaffung der Materialien einen funktionstüchtigen Sprengsatz herzustellen. Ein ausländischer Geheimdienst hatte den Hinweis nach Deutschland weitergeleitet. Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesnachrichtendienst (BND) hatten ermittelt. Der damals 17-Jährige wurde festgenommen. Der Anschlag in letzter Sekunde vereitelt.

Hunderttausende gedachten zuletzt ein Jahr nach dem Hamas-Massaker der schrecklichen Gräuel im Süden Israels. Es gab auch eine Mahnwache vor der Hagener Synagoge.
Hunderttausende gedachten zuletzt ein Jahr nach dem Hamas-Massaker der schrecklichen Gräuel im Süden Israels. Es gab auch eine Mahnwache vor der Hagener Synagoge. © WP | Michael Kleinrensing

Die Jahre vor dem 15. September 2021

Der Jugendliche, der aus Syrien stammt, erhielt eine Haftstrafe von einem Jahr und neun Monaten – ausgesetzt zur Bewährung. Sie ist längst Geschichte. Für die kleine jüdische Gemeinde in Hagen ist die Welt aber spätestens seit jenem 15. September 2021 nicht mehr die, die sie war. Rund um die Uhr bewachen Polizisten im Schichtdienst die Synagoge. Der Bau aus den 60er-Jahren ist an mehreren Stellen umgebaut und gesichert worden. Antisemitismus, der Hass gegen Juden, war schon vor dem 15. September 2021 längst wieder ein alle Gesellschaftsteile durchdringendes Phänomen, wie diese kleine Serie zeigen wird. Und der 7. Oktober 2023 hat ihn – vor allem in sozialen Medien – noch mehr angefacht.

Social Media wirkt hassverstärkend

Vier Monate vor dem Massaker hatte die WP bereits einen ersten Antisemitismus-Schwerpunkt gesetzt. Unter anderem im Rahmen eines politischen Salons der Fernuni zu diesem Thema. Der Gewerkschafter, ehemalige Lehrer, Mitglied des WDR-Rundfunkrates und Mitglied der Bundesversammlung Andreas Meyer-Lauber hatte dort einen Impuls gesetzt. Antisemitismus, das sei eine feindliche, Ressentiment geleitete Einstellung gegenüber Juden, die das Bild des ewigen Juden geradezu manifestiere. Er sei irrational, mystisch und stereotyp. Bei Social Media wirke er hassverstärkend. Ein Bereich ohne Regulation.

23. September 2021: Hagay Feldheim, Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Hagen spricht vor Bürgern vor der Synagoge. Zuvor war ein Anschlag darauf vereitelt worden.
23. September 2021: Hagay Feldheim, Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Hagen spricht vor Bürgern vor der Synagoge. Zuvor war ein Anschlag darauf vereitelt worden. © WP | Michael Kleinrensing

Im Netz fehlen die Autoritäten

„Im Netz fehlen die Autoritäten, was zu einem Online-Enthemmungseffekt führt. Es gibt eine extrem abgesenkte Eintrittsschwelle. Dazu hat Aufklärung im Netz keine Wirkung, wohingegen sie offline noch immer mächtig ist“, sagte Andreas Meyer-Lauber damals. Sozial- und Kulturwissenschaftlerin Dr. Kristin Platt von der Ruhr-Universität Bochum schärfte die Funktionsweise dieses Judenhasses, der präsenter denn je sei. Die Globalisierung und gewisse Marktstrategien würden oft mit antisemitischen Figuren erklärt. Emotionen würden der Rationalität entgegengehalten. Das Bild des Juden werde mit Wurzellosigkeit, der Zersetzung der Gesellschaft und angeblich nicht zu durchschauenden internationalen Netzen gleichgesetzt. „Der Rassismus sagt uns, wie der andere ist. Der Antisemitismus will uns sagen, wie die Welt ist. Er ist in der bürgerlichen Mitte absolut verortet. Wir wissen, dass 18 Prozent der Mitglieder der bürgerlichen Mitte diese Einstellung haben“, so die Wissenschaftlerin.

„Im Netz fehlen die Autoritäten, was zu einem Online-Enthemmungseffekt führt. Es gibt eine extrem abgesenkte Eintrittsschwelle. Dazu hat Aufklärung im Netz keine Wirkung, wohingegen sie offline noch immer mächtig ist.“

Andreas Meyer-Lauber

Wie reagiert man im Alltag?

Die Stadtredaktion arbeitet vor diesem Hintergrund gemeinsam mit dem Fichte-Gymnasium und dem Hildegardis-Gymnasium im Rahmen der Serie an einem Projekt. Beide Schulen beleuchten mit Schülern der Oberstufe das Thema Antisemitismus. Was ist das eigentlich? Wie begegnet er uns heute? Welche Muster, Bilder und Stereotype haben wir im Kopf, wenn wir an Juden denken? Wie genau verlief und verläuft der Nahost-Konflikt. Entscheidend dabei ist auch hier der konstruktive Ausblick: Wie reagiert man auf Antisemitismus im Alltag? Wie schafft man „echte“ Begegnung? Wie demaskiert man den Hass, der oftmals ohne jede Logik daherkommt? Und wie erkennt man ihn vor allem auf Social Media?

Der symbolhafteste Ort

Die Stadtredaktion begleitet das Projekt an beiden Schulen. Und sie schafft echte Begegnung, in dem ein vom ganzen Spektrum des Antisemitismus betroffener Jude mit den Schülern über seine Erfahrungen spricht. Aber auch Polizei und Stadt blicken aus ihrer Perspektive auf das Thema. Wie ist die Lage, wie ist der Ausblick? Das Ende der Serie bildet ein intensives Gespräch an jenem Ort, der symbolhaft für das jüdische Leben in Hagen steht. Ein Gespräch mit dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Hagen, Hagay Feldheim, im Herz der Synagoge, die leider rund um die Uhr bewacht werden muss.

Am Ende des Formats „Unter einem guten Stern“, so viel kann vorweggenommen werden, steht kein Ergebnis. Der Antisemitismus in Hagen wird nicht besiegt sein. Aber mitunter kann dieses Format Denkanstöße liefern, zu Perspektivwechseln anregen und Dinge aufzeigen, die man hinterfragen sollte. Weil es bei allem Gedenken und der Erinnerung eben auch darum geht, die Position des Anderen einzunehmen – heute und jetzt.  

Online werden die Folgen auch in der Zukunft unter www.wp.de/hagen zu finden sein.