Mülheim. Rüdiger Finks Mutter (83) ist nach einem Corona-Ausbruch in einem Mülheimer Heim gestorben. Der Sohn will nicht anklagen, doch ihn quälen Fragen.
Vor zwei Wochen hat Rüdiger Fink seine Mutter verloren. Sie war eine der fünf Frauen, die nach dem Corona-Ausbruch im Evangelischen Wohnstift Uhlenhorst gestorben sind. Ein PCR-Test hatte den Verdacht ihrer Infektion am 17. November bestätigt, eine Woche später war die Mülheimerin tot. Fink trauert. Und seine Gedanken drehen sich im Kreis. Er hegt keinen Groll gegen die Einrichtung, schwärmt im Gegenteil von zweieinhalb guten Jahren, die seine Mutter dort verbracht habe. „Ich habe höchsten Respekt vor den Mitarbeitern. Sie leisten viel Gutes.“ Und doch regt sich leise Kritik: Warum war die 83-Jährige bis zuletzt nicht geboostert, obwohl sie schon Ende Januar ihre zweite Covid 19-Impfung erhalten hatte?
Im Oktober war es, erinnert sich Fink, als seine Mutter bereitwillig und schriftlich in die dritte Impfung einwilligte. „Ein Arzt sollte ins Haus kommen, doch es passierte nichts.“ Der Impfpass weise nach wie vor nur zwei Einträge aus. Und er frage sich, wie vielen der rund 100 Mitbewohnern und -bewohnerinnen es ähnlich ergangen ist. Vielleicht sei es gar immer noch so, dass nicht alle geboostert sind. „Dann sitzen die dort auf einem Pulverfass“, glaubt der 55-Jährige.
Betreiberin: „Mittlerweile haben wir im Stift eine Impfquote von knapp 95 Prozent“
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Dass den trauernden Sohn Fragen quälen und er sich um die Zimmernachbarn der Mutter sorgt, kann Silke Sauerwein, Sprecherin der Wohnstift-Betreiberin Ategris, gut nachvollziehen. Sie hat eine beruhigende Nachricht für ihn: „Mittlerweile haben wir im Wohnstift eine Impfquote von rund 95 Prozent.“
Sauerwein erklärt, warum das Prozedere länger gedauert hat: Am 7. Oktober hatte sich die Ständige Impfkommission (Stiko) dafür ausgesprochen, Personen ab 70 Jahren zu boostern und gerade auch in Pflegeeinrichtungen tätig zu werden. Erst daraufhin habe man tätig werden können. „Und es war aufwendig, die dritte Impfung für alle zu organisieren.“ Jeder Bewohner, jede Bewohnerin habe abgefragt werden müsse, danach wurden die Hausärzte kontaktiert. Wenn diese nicht bereit waren zur Spritze zu greifen, mussten alternative Mediziner gefunden werden. „In den ersten Wochen gab’s daher nur vereinzelt Auffrischungsimpfungen.“ Mitte November dann – also zeitgleich mit dem Corona-Ausbruch – habe es eine größere Impfaktion gegeben. Wer damals bereits infiziert war, blieb außen vor.
„Die Einsamkeit in der Quarantäne kann Menschen den Lebensmut nehmen“
So wie Rüdiger Finks Mutter. Am 15. November, unmittelbar nachdem der erste Schnelltest positiv gewesen war, kam sie in Quarantäne. Dass der Sohn nun nicht mehr zu ihr konnte – „sonst war ich vier-, fünfmal die Woche da“ – und sie mit einem Mal nur noch „voll vermummte“ Pflegekräfte zu sehen bekam, habe ihr zugesetzt. Die langen, einsamen Stunden und die bange Frage „Was passiert jetzt mit mir?“ könnten Menschen jeglichen Lebensmut nehmen, sagt Fink. „Vielleicht ist sie auch daran gestorben.“
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Der 83-Jährigen ging es nicht gut. Sie hatte Husten und Durchfall, war schwach und das Telefonieren fiel ihr schwer. Fink entwickelte eine ungewöhnliche Idee, um der Mutter in der Not beizustehen: Er wollte bei ihr einziehen, bis sie über den Berg gewesen wäre. „Ich hätte eine Toilette und eine Dusche gehabt. Und das Essen hätte man uns vor die Tür stellen oder durchs Fenster anreichen können.“ Das Risiko, sich trotz Impfung selbst mit Corona anzustecken, hätte er gern in Kauf genommen. „Doch die Sache wurde mir verwehrt.“ Auf seine schriftliche Anfrage hin habe das Wohnstift mitgeteilt, dass ein Einzug unmöglich sei. Das städtische Gesundheitsamt habe das Ansinnen untersagt.
Stadtsprecher: Die Begleitung vor Ort ist nur möglich, wenn ein Palliativfall vorliegt
Warum man den Sohn nicht zur Mutter ließ, erklärt Stadtsprecher Volker Wiebels auf Nachfrage. „Ein Einzug war rechtlich unmöglich. Eine Quarantäne darf nicht begleitet werden.“ Etwas anderes gelte nur, wenn ein Mensch im Sterben liegt. Dann greife das Palliativrecht und das erlaube die Begleitung. Die Seniorin sei jedoch „zu keinem Zeitpunkt palliativ“ gewesen; „sie ist plötzlich gestorben, im Beisein einer Pflegekraft“.
Nur noch eine der infizierten Personen ist in Quarantäne
Neun infizierte Bewohner und Bewohnerinnen meldete das Wohnstift nach dem Corona-Ausbruch. Fünf Frauen, alle mit Vorerkrankungen, haben die Infektion nicht überlebt.
Von den anderen vier Personen sind drei mittlerweile aus der Quarantäne entlassen, berichtete Ategris-Sprecherin Silke Sauerwein. Bei einer Person falle der Test nach wie vor positiv aus, so dass die Quarantäne fortdauert. Die Person habe aber keine Symptome.
Ins Heim kommt derzeit nur rein, wer tagesaktuell von einer anerkannten Teststelle getestet worden ist. Auch die Bewohner werden häufig untersucht. Tagelang gab es nur negative Resultate, so Sauerwein.
Am vergangenen Wochenende allerdings zeigte ein Schnelltest eine Infektion an. „Die betroffene Person ist allerdings kurz darauf wegen einer anderen Erkrankung ins Krankenhaus gekommen.“ Man wisse nicht, was der PCR-Test dort ergeben habe. Der Fall gelte damit bislang nicht als bestätigt. Sauerwein sieht (noch) keinen Zusammenhang zu dem Corona-Ausbruch Mitte November.
Rüdiger Fink hadert trotzdem. „Ich will keinen anklagen, niemanden ins schlechte Licht rücken. Aber manches sollte nicht so bleiben, wie es ist.“ Zum einen hätte er sich gewünscht, dass das System flexibler ist und er seine Mutter in ihren letzten Lebenstagen hätte begleiten können, zum anderen, dass man am Uhlenhorst deutlich früher mit dem Boostern begonnen hätte. „Die Menschen, die in so einer Einrichtung leben, sitzen da und können sich nicht wehren. Sie müssen darauf hoffen, dass ihnen Gutes widerfährt.“ Eine frühe Booster-Impfung, so glaubt Fink, hätte manches verhindern können. Nach fast zehn Monaten habe seine Mutter wohl kaum noch Impfschutz gehabt. Ähnlich mag es anderen Verstorbenen ergangen sein.
Auch Mitarbeiter der Mülheimer Einrichtung waren traurig
Am Freitag wurde die alte Dame beerdigt. Dass sie nach ihrer Infektion so schnell gestorben ist, hätte auch viele Mitarbeiter betroffen gemacht, erzählt der Sohn: „Sie haben mich mit Tränen in den Augen empfangen und gefragt: Wie konnte das nur passieren?“