Gladbeck. NRW hat die „Rote Liste“ der gefährdeten Arten aktualisiert. Auch in Gladbeck ist eine erschreckende Entwicklung erkennbar: ein Überblick.
NRW hat die Liste der „gefährdeten Arten“ aktualisiert. Und darauf befinden sich nicht etwa Exoten, sondern – flapsig gesagt – Allerweltstiere. Also solche, die einem noch vor Jahren auf Schritt und Tritt begegnet sind. Das Artensterben ist auch in Gladbeck längst unübersehbar.
Man muss keinen Adlerblick haben, um zu erkennen: Die Vielfalt an Tieren ist längst geschrumpft. Wer hat hier denn in jüngster Vergangenheit schon einen Feldhamster oder -hasen, einen Gartenschläfer oder eine Fledermaus mit dem hübschen Namen „Kleine Hufeisennase“ erspäht? Michael Korn, Experte beim Gladbecker Naturschutzbund (NABU), könnte die Liste derjenigen Tiere, die der Mensch in heimischen Gefilden kaum noch zu Gesicht bekommt, mühelos um zig Arten fortsetzen. Sie müssen nicht unbedingt gleich auf der „Roten Liste“ stehen, doch ihr Rückgang und Fehlen fallen auf. „Die Wasserfledermaus ist weniger geworden, die Fransenfledermaus ist kaum noch zu sehen wie auch die Wasserfledermaus“, berichtet der Fachmann.
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Als einen Grund dafür macht er die zunehmende Lichtverschmutzung aus, die seit Jahrzehnten zu beobachten sei und beispielsweise das Nahrungsangebot für Fledermäuse negativ beeinflusst. Diese Entwicklung setzt eine Kettenreaktion in Gang, an deren Ende das Aus für manche Tierarten steht. Der NABU-Experte stellt fest: „Es ist klar und deutlich: Bei uns sind die Hautfledermaus und der Große Abendsegler deutlich weniger geworden.“
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Eine weitere Ursache: die Landwirtschaft. „Es werden Insektizide und Pflanzenvernichtungsmittel eingesetzt“, so Michael Korn. Die Konsequenz: Wo kein Futter, da keine Tiere. „Dass Kleininsekten wegfallen, sehen wir doch schon im Alltag. Gucken wir auf die Autoscheiben: Da sind keine mehr wie früher.“ Wiesen, wenn denn für sie in einer zunehmend versiegelten Stadt überhaupt noch Raum ist, mit Blumen für Bienenvölker? Längst keine Selbstverständlichkeit heutzutage. Und wo sind all’ die Schmetterlinge hin? Korn meint: „Es stellt sich auch die Frage: Wie bewirtschafte ich Wälder? Lasse ich für Kleintiere und Insekten Altholz stehen?“ Zauneidechse, Feuersalamander, der sich gerne im Totholz und unter Baumwurzeln versteckt, und viele anderer tierische Bewohner kennen viele Menschen doch nur noch vom Hörensagen – oder aus Büchern.
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In der Vogelwelt, die einst vollkommen natürlich war, fehlen mittlerweile ebenfalls etliche Stimmen, registriert Gerd Tersluisen vom Hegering Gladbeck. Von wegen: „Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle. Welch ein Singen, Musizieren, Pfeifen, Zwitschern, Tirilieren!“ Das, was das bekannte Lied beschreibt, war einmal. Still ist’s in Wald und Flur geworden.
Beginnen wir doch einmal mit der Haussperling und seinem Verwandten, dem Feldsperling. Sie haben wie etliche andere Vögel, keinen ausreichenden Lebensraum mehr. Ihre Niststätten unter Dachziegeln sind verschwunden.
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Tersluisen sagt: „Unsere Häuser haben noch heute lange Gärten, die früher zum Anbau von Obst und Gemüse genutzt wurden. Einen Hühnerstall fand man fast in jedem Garten. Obst, Gemüse und Eier finden wir heute ohne Arbeit in Geschäften. Die Obstbäume wurden gefällt und durch Einheitsrasen mit einem Pool ersetzt. Während sich ehedem noch Massen von Spatzen zur Fütterung der Hühner einstellten, bleibt ihr Tisch heute leer. Wo sollen diese Vögel denn noch leben?“
Der Hegering-Experte kennt keinen Ort in Gladbeck, der noch einen singenden Gartenrotschwanz beherbergt: „Auch dieser Vogel benötigt Obstbäume mit ihren Höhlen und Halbhöhlen um zu nisten. Auch er benötigt Insektennahrung, um mit seinen Jungen überleben zu können.“ All’ das habe der Mensch ihm genommen, bedauert Tersluisen. Das betreffe gleichfalls den Star, einst kein seltener Mitbewohner. Keine Nistmöglichkeiten – davon können Rauch- und die Mehlschwalben ein Lied singen. „In dumpfen Ställen surrten die Fliegen. Da fanden Schwalben Futter. In der heutigen hygienischen Stallhaltung haben Fliegen keinen Platz – und Schwalben kein Futter.“ Außerdem: „Die Versiegelung der Wege bringt den Schwalben kein notwendiges Nistmaterial mehr und das Insektensterben gibt ihnen den Rest. Über unseren Feldern fliegen kaum noch Insekten, die Wurstbrötchen für Schwalben. So ist der Besatz an Rauch- und Mehlschwalben in Gladbeck auf gefühlte zehn Prozent zurückgegangen.“
Wer hört denn in natura noch einen Kuckuck? Oder eine Feldlerche? Tersluisen stellt die rhetorische Frage: „Wo gibt es noch Wiesenraine, die Brutmöglichkeiten bieten? Wo gibt es noch nasse Viehweiden als Lebensraum?“ Kiebitz und Rebhuhn verloren ihr Zuhause durch die Veränderung der Produktionsmethoden in der Landwirtschaft: „Wo fünfmal im Jahr Silograss gemäht wird, bringt kein Vogel seine Brut mehr hoch, und in Maissteppen ist ein Leben für diese Vögel ausgeschlossen.
Tersluisen: „Wir haben gesehen, dass wir selbst für den Rückgang der Lebensräume fast aller Tiere verantwortlich sind. Unser Kaufverhalten hat die Landwirtschaft zu mehr Masse als Klasse getrieben.“
Lage in NRW ist schlecht
Die Situation in Nordrhein-Westfalen ist schlechter als anderswo im Bundesgebiet. Fast die Hälfte, ungefähr 45 Prozent, der 43.000 verschiedenen Tier-, Pilz- und Pflanzenarten stehen in NRW auf der „Roten Liste“. Sie sind gefährdet, vom Aussterben bedroht oder bereits ausgestorben. Deutschlandweit pendelt der Anteil zwischen 27 und 33 Prozent.
NRW-Umweltminister Oliver Krischer (Grüne) sieht die Gefahr, dass „ohne eine intakte Natur, ohne ein wildes und lebendiges Nordrhein-Westfalen, unsere Lebensgrundlagen gefährdet“ seien. Daher brauche es Anstrengungen, um dem Verlust an biologischer Vielfalt entgegenzuwirken. Ein Weg: die Ausweitung von Naturschutzflächen.
Der Klimawandel trägt ebenfalls zum Artensterben bei. Ein plakatives Beispiel: der Wittringer Wald. Michael Korn: „Die Buchen sterben weg.“ Hitze und Dürre haben den uralten Riesen den Tod gebracht. Krankheiten und Schädlinge setzen anderen Baumarten, zum Beispiel Kastanien, zu. Der Gladbecker erzählt: „Steinpilze, Pfifferlinge und Wiesenchampignons sind so selten geworden, dass Sammler ihre Fundstellen wie ein Geheimnis hüten.“ Gleiches gelte für manche Pflanzen wie Orchideenarten, an deren Anblick sich Natur-Fans nicht mehr erfreuen können. Tersluisen zweifelt daran, dass sich die Uhr zurückdrehen lässt. Was bleibt also? Die Tiere und Pflanzen wertschätzen, deren Lebensraum schützen und erhalten. Damit auch künftige Generationen sie erleben und bestaunen können.