Gladbeck. In Gladbeck ist der Stolperstein eines jüdischen Kaufmanns verschwunden. Die Tat entsetzt. Polizei und Staatsschutz hoffen auf Zeugen-Hinweise.
Beim Bündnis für Courage und den Schülerinnen und Schülern vom Heisenberg Gymnasium in Gladbeck herrscht großes Entsetzen: Vor wenigen Tagen wurde einer der Stolpersteine vor dem Haus an der Rentforter Straße 16 von Unbekannten entfernt, aus seiner Betoneinbettung herausgebrochen und gestohlen. Da, wo bis kurz nach dem 9. November – dem Gedenktag an die Opfer der Reichspogromnacht – noch eine goldene Messingtafel an das Schicksal des jüdischen Kaufmanns Mendel Friedmann erinnert hat, klafft nun eine quadratische Lücke im Pflaster. Die Bündnis-Mitglieder und auch die Heisenberger plagt ein schlimmer Verdacht.
„Natürlich denkt man mit Blick auf den Krieg im Gazastreifen automatisch an eine Tat mit einem antisemitischen Hintergrund. Das beunruhigt auch die Schüler sehr“, sagt Carmen Giese. Sie ist Lehrerin am Heisenberg Gymnasium und betreut die Courage AG an der Schule. In der AG engagieren sich Schülerinnen und Schüler aus mehreren Jahrgangsstufen – mit Aktionen gegen Rassismus und für Toleranz und ein friedliches Miteinander in der Gesellschaft. Die Gymnasiasten kümmern sich unter anderem auch um 38 Stolpersteine in Gladbeck. „Dreimal im Jahr werden die Steine geputzt. Dabei helfen immer auch noch weitere Schüler vom Heisenberg mit“, erklärt Carmen Giese.
In Gladbeck kümmert sich das Bündnis für Courage um die Stolperstein-Aktion
Wenige Tage nach so einer Putzaktion am 14. November ist dann auch aufgefallen, dass an der Rentforter Straße der Stein für Mendel Friedmann herausgebrochen wurde. Die Messingplatten seiner Familie – seiner Ehefrau und die der Kinder – sind unberührt. „Wer immer das war, muss schwer gearbeitet haben. Die Stolpersteine werden alle einbetoniert, um genau solche Taten zu erschweren“, sagt Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup vom Bündnis für Courage, das sich in Gladbeck federführend um die Stolperstein-Aktion kümmert. „Wir sind alle sehr erschrocken über das Verschwinden der Gedenkplatte“, sagt die engagierte ehemalige Pfarrerin. Das Bündnis will auf jeden Fall Anzeige erstatten. Die Tat sei um so schrecklicher, so Hildebrandt-Junge-Wentrup, weil es noch lebende Angehörige der Familie Friedmann gibt – in Palästina.
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Zum Hintergrund: Mendel Friedmann war Mitinhaber eines Möbelgeschäftes. Er war gemeinsam mit seiner Frau Etli aus Polen nach Gladbeck eingewandert. Das Paar hatte vier Kinder. Das Geschäft der Familie lief gut – bis die Nationalsozialisten zum Boykott jüdischer Händlerinnen und Händler aufriefen, heißt es auf der Homepage „Stolpersteine NRW“ zur Geschichte der jüdischen Familie. Tagelang standen Posten vor dem Laden und verwehren den Kunden den Zutritt.
Schließlich wurde das Geschäft Friedmanns im Zuge der „Arisierung“ zwangsveräußert. Seinem Sohn Max, der sich den Kommunisten angeschlossen hat, setzten die bedrohlichen Verhältnisse psychisch so zu, dass er in eine Anstalt eingewiesen wird. Dort wurde er Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde.
Im Jahr 1939 gelang dem Ehepaar Friedmann die Flucht nach Palästina
Als polnische Staatsbürger wurden die Eheleute Friedmann während der sogenannten Polenaktion nach Zbaszyn ausgewiesen. 1939 gelang ihnen die Auswanderung nach Palästina. Dorthin waren bereits ihre Kinder geflüchtet. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs stellte Mendel Friedmann, damals schon über 70 Jahre alt, einen Entschädigungsantrag bei den bundesdeutschen Behörden. Sechs Jahre nach der Antragstellung stirbt Friedmann, ohne je eine Leistung erhalten zu haben.
Das sagen Polizei und Staatsschutz zu dem in Gladbeck gestohlenen Stolperstein
Im zuständigen Polizeipräsidium in Recklinghausen nimmt man den Vorfall sehr ernst. Und: Der Staatsschutz ist auch bereits eingeschaltet, so Polizeisprecherin Annette Achenbach, „da es sich durchaus um eine politisch motivierte Tat handeln kann“. Wichtig, betont Achenbach, seien auf jeden Fall weitere Hinweise von Zeugen. „Vielleicht hat jemand etwas beobachtet, und der Tatzeitraum könnte weiter eingeengt werden.“ Deshalb die Bitte der Polizei, sich unter der Rufnummer 0800 2361 111 im Präsidium zu melden. Nach den bisherigen Recherchen auch des Staatsschutzes, so die Sprecherin, hat es 2021 in Haltern am See schon einmal eine solche Tat gegeben. Auch dort wurde ein Stolperstein entwendet. Ein Täter wurde nicht ermittelt.
Heisenberger haben die Stolpersteine vor dem Haus Rentforter Straße 16 vor kurzem erneut geputzt – und Rosen niedergelegt
Vor wenigen Tagen sind die Gymnasiasten vom Heisenberg erneut zur Rentforter Straße 16 gegangen, um die verbliebenen Messingtafeln der Familie Friedmann zu putzen. Und, wie bei jeder Putzaktion üblich, haben die Jugendlichen eine Rose auf jeden Stolperstein gelegt. Auch die Lücke, in der die Messingtafel für den jüdischen Familienvater gesteckt hat, wurde natürlich mit eine Rose geschmückt. Die Schülerinnen und Schüler, sagt Lehrerin Carmen Giese, sind froh, dass nun eine breite Öffentlichkeit von der Tat erfährt. Sie rufen in diesem Zusammenhang erneut zu Toleranz und einem friedlichen Miteinander auf.
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Was die Schüler freut: Das Bündnis für Courage hat bereits zugesagt, dass bei der nächsten Stolpersteinaktion im November 2024 eine neue Messingtafel für Mendel Friedmann verlegt werden soll.
>> Seit 1993 verlegt der Kölner Künstler Gunter Demnig in ganz Deutschland Stolpersteine, um die Erinnerung an die während der Nationalsozialistischen Diktatur vertriebenen, verfolgten und ermordeten Juden, Sinti und Roma, politischen Widerständler, Homosexuellen, Zeugen Jehovas und Euthanasieopfer lebendig zu erhalten.
Die Stolpersteine geben diesen Menschen ihren Namen, ihre Geschichte zurück. In Gladbeck erinnert das Bündnis für Courage seit 2009 mit der ersten Verlegung von Stolpersteinen an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors. Mittlerweile liegen in Gladbeck 118 Stolpersteine (von denen nun einer fehlt) an 33 Stellen.