Essen. Armut benachteiligt Kinder auch beim Sport. Die wichtigen Bewegungs-Angebote im Ganztag würden vernachlässigt, sagt ein Essener Experte.
Heißt es nicht: Der Sport macht alle gleich? Sport überwindet Grenzen? Sprachbarrieren, Unterschiede zwischen Kulturen, Klüfte zwischen Arm und Reich? Ja und Nein. „Kinderarmut“, betont Ulf Gebken, „wird im Sport leider sehr sichtbar.“
Wir stehen in der Turnhalle der Grundschule Nordviertel, Beisingstraße, eine der größten Grundschulen in Essen. Fast alle Kinder haben hier einen sogenannten Migrationshintergrund, die Quote der Familien, die Geld vom Amt bekommen – wie Hartz IV, ist hoch.
Gebken ist Professor an der Uni Duisburg-Essen, am Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften, er hat eine „Professur für Sozialwissenschaften des Sports“ inne. Jeden Dienstag um zwei kommt er in diese Turnhalle, um 20 bis 30 Kindern die „Sport-AG“ anzubieten, Bewegungsspiele am Nachmittag. Als Professor? „Wenn man nur am Schreibtisch sitzt“, sagt Gebken, „versteht man nicht, was die echten Probleme sind.“
Fast kein Junge und kein Mädchen hat richtiges Sportzeug mit
Die echten Probleme fangen zum Beispiel damit an, dass fast alle Kinder an diesem Nachmittag in Jeans und Socken durch die Halle hüpfen. „Richtiges Sportzeug hat fast nie jemand mit“, berichtet Gebken, obwohl der AG-Termin ja immer derselbe ist. „Die Eltern sind aus unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage, Sportzeug für ihre Kinder zu beschaffen.“
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Liegt es an den 20 Euro für Hallensportschuhe? „Auch“, sagt Gebken. Sport mit seinen etablierten Marken und den teuren Original-Vereins-Trikots, die gut und gerne 70 oder 80 Euro kosten (und zwar nur die Kindergrößen!), biete viel Ausgrenzungspotenzial, was Ausrüstung und Kleidung angeht. „Die Kinder wissen und erkennen, wenn jemand das unechte Deutschland-Trikot trägt, das bei KiK zehn Euro kostet“, sagt Gebken. Und nicht zuletzt die 60 oder 70 Euro Vereinsbeitrag pro Halbjahr, den ein Fußballverein in der Regel haben will, seien für viele Familien zu viel.
Die Jungs und Mädchen in der Turnhalle haben einen langen Schultag hinter sich, doch sie tollen und toben voller Energie. Gebken leitet das Spiel „Verstecker“ an, es geht ums Verstecken hinter großen Turnkästen und dicken Matten; und die Mitspieler befreien kann man, wenn man einen Ball wegschießt, der von anderen Spielern bewacht wird.
Bewegungsangebote an Grundschulen am Nachmittag leben von freiwilligen Kräften
Die Turnhalle an der Grundschule Nordviertel ist frisch saniert und gut ausgestattet; das war nicht immer so, „und fragen Sie mal, wo hier im Nordviertel der nächste Sportverein in der Nähe ist, den Kinder fußläufig erreichen können.“ Gebken gibt die Antwort selbst: „Es gibt keinen.“
Umso größer sei die Bedeutung, die dem Sport in der Schule zufällt – und zwar nicht nur den zwei oder drei Stunden Schulsport im Stundenplan, sondern Bewegungs- und Aktivitätsangeboten am Nachmittag, im „Offenen Ganztag“; fast alle Essener Grundschulen sind Ganztagsgrundschulen, der Bedarf nach verlässlicher Nachmittagsbetreuung wächst, seit es sie gibt.
„Die Mehrheit der Bewegungsangebote im Ganztag von Grundschulen“, berichtet der Sport-Professor, „wird von Bufdis oder FSJlern angeboten“. Bufdi heißt Bundesfreiwilligendienst, FSJ heißt „Freiwilliges Soziales Jahr“. Das heißt: Die so wichtigen Sportangebote am Nachmittag ruhen auf den Einsätzen von freiwillig arbeitenden, schlecht bezahlten jungen Kräften. „Ein Unding“, findet Gebken. Besonders angesichts der Herausforderung, am Nachmittag eine Menge von Kindern durch zwei Stunden Sport-AG zu bringen, obwohl diese Kinder durch den langen Schultag körperlich unausgelastet, gleichzeitig aber häufig untrainiert sind – Konflikte lauern überall, auch Verletzungsrisiken sind nicht von der Hand zu weisen.
„Ich habe im Austausch mit dem Personal in der Ganztagsbetreuung viel gelernt“, sagt Gebken. „Zum Beispiel: Der Personalschlüssel von 1 zu 25 ist eine sehr große Herausforderung.“ Auch die Betreuung der Hausaufgaben in diesem Rahmen verlaufe nicht immer günstig; und dass die Erzieherinnen und Erzieher im Ganztag ausgesprochen anspruchsvolle und wertvolle Arbeit leisten, werde in der Öffentlichkeit nur wenig wertgeschätzt.
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