Essen. Immer mehr Schulanfänger in Essen haben motorische und sprachliche Defizite oder Übergewicht. Doch die Wartelisten für Therapieplätze sind lang.
Wenn es um die Gesundheit der Essener Kinder geht, kann Dr. Ludwig Kleine-Seuken keine Wende zum Besseren sehen. Im Gegenteil: „Kinder und Jugendliche leiden noch immer unter den Folgen der Pandemie. Gleichzeitig sind unsere Praxen überlaufen und für alle Therapieangebote gibt es lange Wartelisten.“ Dass Jugenddezernent Muchtar Al Ghusain jüngst davon sprach, bei der Kinderarmut sei ein „Turnaround“ eingeleitet, wundere ihn sehr, sagt der Obmann der Essener Kinder- und Jugendärzte.
„Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter. Damit eng korreliert gibt es mehr motorische Defizite, Sprachprobleme und Adipositas bei Klein- und Schulkindern in Armutsbezirken.“ Gerade für Familien mit geringem Einkommen und beengtem Wohnraum sei der Lockdown fatal gewesen. Inzwischen hat Al Ghusain dazu erklärt, dass er sich wegen der hohen Belastungen für Kinder und Familien große Sorgen mache. Den Begriff „Turnaround“ habe er lediglich auf den Ausbau der Schullandschaft gemünzt wissen wollen. Die Bekämpfung der Kinderarmut sehe er als Langzeitaufgabe, stellte der Dezernent klar.
Essener Kinderärzte schrieben Brandbrief an den Oberbürgermeister
Die rund 40 Essener Kinderärzte und -ärztinnen hatten schon vor zwei Jahren einen Brandbrief an den Oberbürgermeister geschrieben: Sie schilderten, was coronabedingte Kita- und Schulschließungen, abgesperrte Spielplätze, geschlossene Bäder, das Fehlen von Musikschule, Sportverein und anderen sozialen Kontakten bei ihren Patienten angerichtet hatten. Von motorischen und sprachlichen Defiziten war die Rede, von Übergewicht und psychischen Problemen. Die Ärzte warnten damals: „Wir fürchten, dass Kinder und Jugendliche hintenrüberfallen.“
Wer mal eben mit den Kindern in den Wald gehen könne oder einen Garten habe, könne Lagerkoller und Bewegungsmangel leichter abhelfen, sagt Kleine-Seuken, der eine Praxis in Katernberg hat. Wenn er den Eltern seiner Patienten rate, mehr Gemüse auf den Speisezettel zu setzen, sage zwar niemand, dass frische Lebensmittel zu teuer seien: „Es heißt dann eher, dass ihre Kinder kein Gemüse mögen. Und wenn ich Sportkurse anmahne, sagen sie, das Kind habe für sich noch nicht die richtige Sportart gefunden.“ Es gebe jedoch Statistiken, die einen klaren Zusammenhang von Adipositas, also starkem Übergewicht, und Armut belegten.
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Im Norden der Stadt sind mehr Kinder übergewichtig
Auch an den Schuleingangsuntersuchungen kann man das ablesen: Da liegt der Anteil der Erstklässler, die zu dick sind, in gutbürgerlichen Stadtteilen wie Bredeney, Schönebeck oder Haarzopf bei unter zehn Prozent; ähnlich sieht es im ganzen Süden aus. In den Stadtteilen im Norden und Nordosten der Stadt sind dagegen gut 30 Prozent der Schulanfänger übergewichtig.
Die Daten stammen von 2021, im Laufe der Pandemie dürfte sich die Entwicklung weiter verschärft haben. Gleiches gilt für die Kinder, die bei den Schuleingangsuntersuchungen auffallen, weil sie gesundheitliche Störungen, motorische oder sprachliche Defizite haben (Grafik). Auch hier ist der Zusammenhang von Wohlstand und Gesundheit augenfällig: In Altendorf haben 68 Prozent der Schulanfänger auffällige Befunde, in Werden sind es nur 20 Prozent.
Gleichzeitig seien alle Auffangsysteme überlastet, sagt Kleine-Seuken: „Wenn ich vorschlage, dass ein Kind im Kindergarten eine besondere Förderung bekommen soll, fragt die Erzieherin, wie sie das schaffen soll. In den Kitas ist Land unter.“ Viele Angebote seien in der Pandemie gestoppt worden, manches sei bis heute nicht oder nicht in vollem Umfang zurückgekehrt.
Lange Wartelisten bei Therapieangeboten für Kinder
Selbst die erst im Juni 2022 eröffnete Interdisziplinäre Frühförderstelle (IFF) im ehemaligen Marienhospital in Altenessen sei schon hoffnungslos überlaufen. Hier sitzen Ärzte, Heilpädagogen, Physiotherapeuten, Psychologin, Logopädin und Ergotherapeutin unter einem Dach und bieten Therapien für Kinder an. „Wir sind schon mal super aufgestellt“, freute sich Gesundheitsdezernent Peter Renzel beim Besuch im vergangenen Sommer. „Und für die Kinder auf der Warteliste suchen die Ärzte nach anderen Lösungen.“
Kinderarztpraxen im Norden sind für mehr Patienten zuständig
In Essen gibt es laut Kassenärztlicher Vereinigung 40 Kinder- und Jugendärzte (Stand: 31.12.2020). Auf den ersten Blick sind die neun Stadtbezirke fast gleich mit Kinder- und Jugendärzten versorgt: In sechs Bezirken gibt es jeweils vier Kinderärzte und -ärztinnen; in einem drei, in einem fünf. Nur der Bezirk I ragt mit acht Kinderärzten heraus. Zu diesem Bezirk gehören die zentralen Stadtteile Nord-, West-, Ost-, Süd- und Südostviertel, Huttrop, Frillendorf und der Stadtkern. Sechs der acht Praxen liegen in Huttrop.
Berücksichtigt man die Zahl der jungen Einwohner, kann von einer Gleichverteilung keine Rede sein: Im Stadtbezirk IX, zu dem u.a. Bredeney, Kettwig, und Werden zählen, sind vier Kinderärzte für 7804 unter 18-Jährige zuständig. Im Bezirk IV (Borbeck, Bergeborbeck, Bochold, Frintrop u.a.) kümmern sich vier Kinderärzte um 13.129 Kinder und Jugendliche. Rechnerisch ist im Süden also eine Praxis für 1950 Patienten da, im Westen für 3280. Im Nordbezirk V mit Altenessen, Karnap und Vogelheim kümmert sich rechnerisch ein Kinderarzt sogar um 3770 Patienten.
Seither sei die Warteliste nur länger, die Suche aussichtsloser geworden, ärgert sich Ludwig Kleine-Seuken: „300 Kinder warten auf einen IFF-Platz, bei Therapeuten oder Psychotherapeuten ist es ähnlich. Die Frühförderstelle ist ein klassisches Leuchtturmprojekt, das in der Breite nicht hilft.“ So lande nun manches in Kinderarztpraxen, was eigentlich an anderer Stelle behandelt werden müsse.
Stadt und Kinderärzte treffen sich zum Krisengespräch
Die jüngsten Infektwellen brächten nicht allein die Praxen im Norden an ihre Grenzen: „Auch in vielen anderen Stadtteilen bekommt man nun keinen Termin mehr beim Kinderarzt. Und in der Notdienstpraxis rennen uns die Leute die Bude ein.“ Das System sei völlig überlastet. Am Mittwoch (29. 3.) gebe es einen Austausch der Kinderärzte mit Gesundheits- und Jugendamt, sagt Kleine-Seuken. Da wolle er fragen, welche Lehren die Stadt aus der Pandemie gezogen habe und welche Planungen es gebe angesichts des riesigen wachsenden Förderbedarfs bei Kindern. „Vielversprechende Antworten sind eine echte Herausforderung – und ein schöner Traum.“