Essener Norden. Kinder würden zum Teil verwahrlost zur Schule kommen: Ein Schulsozialpädagoge aus dem Essener Norden berichtet aus seinem Alltag.
Einige Kinder kommen gar nicht zur Schule, andere ungepflegt. Die Eltern sind manchmal schwer zu erreichen, wohnen zum Teil in Schrottimmobilien: Das ist der Alltag von Mümtaz Ziyansiz, Sozialpädagoge in der Schuleingangsphase der Kantschule in Essen-Katernberg. Hier berichtet er von seiner Arbeit.
Grundschulkindern im Essener Norden fehlen basale Kompetenzen
„Als ich vor 18 Jahren ins Lehrerzimmer gekommen bin saßen dort die anderen Lehrer und haben über Gott und die Welt geredet. Eine Kollegin hat immer gestrickt. Jetzt kommt man gar nicht mehr bis ins Lehrerzimmer, weil man auf dem Weg dorthin schon die Probleme von diversen Kindern lösen muss. Schafft man es dann doch bis ins Lehrerzimmer, geht es oft um irgendein akutes Problem, ein Kind hat sich verletzt oder ist ausgerastet. Das Problem gilt es dann unmittelbar zu lösen, bevor man auch schon wieder zurück in die Klasse muss.
Vor 15 Jahren hatten wir drei auffällige Kinder pro Jahrgang und jetzt – überspitzt gesagt – drei normale Schulkinder pro Klasse. Den Kindern fehlen basale Kompetenzen wie das Halten eines Stiftes, der Umgang mit der Schere, einfach zuzuhören oder andere aussprechen zu lassen. Sie sind unkonzentriert, haben nie gelernt, in einer Gruppe zu agieren.
Grundschule im Essener Norden: Zweidrittel der Eltern beziehen Sozialtransferleistungen
Viele von ihnen waren nicht im Kindergarten. An unserer Schule haben 80 Prozent der Kinder Migrationshintergrund, zwei Drittel der Eltern beziehen Sozialtransferleistungen. Die Kinder kommen zum Teil aus bildungsfernen Familien, bei denen Schule keinen Stellenwert hat.
Eines der größten Probleme sind die überfüllten Klassen. Da sitzen zum Teil 28 Kinder auf 53 Quadratmetern. Das ist nicht zumutbar. Die Kinder haben einen Bewegungsdrang, der so nicht ausgelebt werden kann. Eine kleine Berührung beim Umdrehen kann schon zur Eskalation führen. Auch mit der Lautstärke kommen nicht alle klar, einige Kinder stören permanent den Unterricht.
Ein Stuhlkreis ist in den kleinen Klassenräumen oft gar nicht möglich, obwohl es wichtig wäre, dass die Kinder sich alle sehen, wenn sie beispielsweise vom Wochenende erzählen. Auch die individuelle Förderung ist schwierig auf dem beengtem Raum und der Menge an Schülern und Schülerinnen. Richtige Kernklassen gibt es schon lange nicht mehr, wir müssen ständig neue Kinder aufnehmen. Das führt dazu, dass sich alle immer neu behaupten müssen und sich nicht heimisch fühlen können.
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Manche hauen dann von der Schule ab oder kommen erst gar nicht. Dann müssen wir ein Bußgeldverfahren einleiten. Manche Kinder sind schon per Ordnungsverfügung zur Schule gebracht worden. Die Eltern sind zum Teil nicht zu erreichen, die angegebenen Telefonnummern sind nicht vergeben, Elternbriefe werden nicht gelesen, obwohl wir sie in sechs Sprachen verfassen. Wenn ich dann Hausbesuche mache, sehe ich, dass die zum Teil in Bruchbuden wohnen, die eigentlich gar nicht vermietet werden dürften. Man riecht auch, dass manche Kinder ungepflegt sind, selten duschen.
Gestern hat ein Vater sein krankes Kind zur Schule gebracht. Ich hatte dem Kind schon am Tag zuvor gesagt, es müsse zum Arzt. Der Vater hat es dann hier abgegeben und ist weggelaufen. Da musste ich hinterher und ihm erklären, dass er das Kind wieder mitnehmen muss. Das ist kein Einzelfall. Es passiert nicht selten, dass sich Kinder hier übergeben und dann erreichen wir die Eltern nicht. Andere kommen von zu Hause, haben eine Verletzung und fragen, ob sie ein Pflaster haben können. Zuhause gäbe es keins. Wir haben einen Erziehungsauftrag, können aber Mutter und Vater nicht ersetzen.
Schulsozialarbeiter fordert: „Essener Norden sollte bevorzugt behandelt werden“
Im Norden leben deutlich mehr Kinder als im Essener Süden. Daher sollte der Norden auch bevorzugt behandelt werden. Wir brauchen weniger Schüler pro Klasse und mehr Personal, damit die Lehrer individuell auf die Kinder eingehen können. Das Personal ist aber schwierig zu finden. Hier arbeitet man aus Überzeugung, man hat den Idealismus, dass man etwas Gutes tut und die Kinder in die richtige Richtung lenkt. Selbstverständlich ist hier gar nichts.
Die Plätze im Ganztag sind begrenzt, die Warteliste ist gefüllt, dabei würde die Betreuung dort vielen Kindern zu Gute kommen. Den Kindern gibt das Angebot Struktur. Außerdem bekommen sie dann regelmäßig etwas zu essen, Bewegung und konsumieren nicht ungefiltert Medien.
Die Schüler von unserer Schule sollen auch mal arbeiten und Steuern bezahlen. Dafür brauchen sie eine gute Bildung. Gut wäre, wenn die letzten beiden Kitajahre verpflichtend wären, dann würden die Kinder schonmal basale Kompetenzen mitbringen.“
Serie zum Thema Kinderarmut in Essen
Mehr als jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene gelten in Deutschland als armutsgefährdet, schreibt die Bertelsmann-Stiftung in ihrem Bericht von Januar 2023. Und: „Die Daten zeigen, dass sich die Lage nicht gebessert hat.“ Das trifft auch auf unsere Stadt zu, in der sogar fast jedes dritte Kind von Sozialleistungen lebt – trotz zahlloser Anstrengungen, Masterpläne und Projekte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Mancher mag die Nachrichten vom vermeintlich abgehängten Norden der Stadt, von Bildungsverlierern und vererbtem Sozialleistungsbezug nur noch achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Abfinden sollten wir uns damit nicht.
Im Rahmen einer Serie zur Kinderarmut wollen wir den 29.765 Kindern und Jugendlichen, die in Essen von SGB-II-Leistungen leben, ein Gesicht, eine Stimme geben. „Damit sich an dem strukturellen Problem der Kinderarmut endlich etwas ändert, sollte die Bundesregierung die angekündigte Kindergrundsicherung jetzt schnell und entschlossen auf den Weg bringen“, fordert die Bertelsmann-Stiftung. Wir fragen Experten vor Ort, welche Lösungswege sie sehen. Wir sehen uns an, wie Stadt, Wohlfahrtspflege und Ehrenamtliche Kinderarmut bekämpfen. Vor allem aber wollen wir die betroffenen Kinder fragen, was sie sich von ihren Eltern, der Politik, von Schule und Vereinen erhoffen.
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