Essen. Julia Gajewski arbeitet lange an einer Essener Brennpunkt-Schule. Sie sagt: Armut ist das größte Problem, sie beeinträchtigt sogar das Denken.
Keine Schule in Essen steht so sehr für das Schlagwort „Sozialer Brennpunkt“ wie die Gesamtschule Bockmühle in Altendorf. Julia Gajewski arbeitet dort seit mehr als 20 Jahren, seit etwa zehn Jahren als Leiterin. Sie sagt: „Nicht Migration oder Bildungsferne machen die Probleme unserer Schülerinnen und Schüler aus, sondern in erster Linie die Armut.“ Ein Protokoll.
„Mit den Stiften geht es los. Unsere Schüler haben meistens nicht die von Faber-Castell oder andere teure Markenstifte, sondern die aus dem Zehnerpack für 1,99 Euro von Lidl oder Netto. Fällt ein solcher Buntstift zu Boden, zerspringt die Mine im Innern des Stiftes in 1000 Teile. Das heißt, sie spitzen an, die Mine bricht ab. Sie spitzen weiter an, die Mine bricht wieder ab. In der Klasse sieht das dann so aus: Die einen spitzen zehn Minuten lang vergebens ihre kaputten Stifte an, während die anderen schon arbeiten.
Viele Eltern verstehen nicht, warum ihre Kinder ein zweites Paar Schuhe brauchen
Etwa zwei Drittel unserer Schülerinnen und Schüler kommen aus Familien, die Sozialleistungen beziehen, meistens Hartz IV. Die Unterschiede sind nicht nur in der Ausstattung sichtbar, man merkt es nicht nur an den Stiften oder Schuhen. Schuhe? Ja, längst nicht jeder hat zwei Paar Schuhe, eins für die Straße, eins für den Hallensport. Dabei fehlt es nicht unbedingt an Geld. Oft sind es die Eltern, die nicht verstehen, warum sie ihren Kindern ein zweites Paar Schuhe kaufen sollen. Die Eltern zu erreichen, ist nicht immer leicht: Oft kommt Post der Schule zurück, mit Stempel auf dem Umschlag: „Empfänger unbekannt“. Die Familien leben in prekären Verhältnissen, da gibt es weder Klingelschilder noch amtlich gemeldete Wohnsitze.
Als Gesamtschule stehen wir eigentlich für Bildungsgerechtigkeit. Dafür wurde diese Schulform erfunden. Wir sind die, die auch jene Kinder und Jugendliche zum Abitur bringen, die die ersten in ihren Familien sind. Aber im Alltag scheitert dieses Vorhaben oft. Kinder und Jugendliche, die das Zeug zum Abitur haben, müssen ihren Weg durch harte Widerstände gehen. Eltern leisten häufig keine Unterstützung, sie haben oft völlig andere Vorstellungen für die Zukunft ihrer Kinder. Dort spielt das Abitur nicht immer die Hauptrolle.
Am Ende ist es viel zu häufig Glück, ob jemand eine erfolgreiche Bildungskarriere hinlegt
Am Ende ist es viel zu häufig Glück, ob jemand aus armen Verhältnissen eine erfolgreiche Bildungskarriere hinlegt – zum Beispiel mit Unterstützung solcher Initiativen wie „Talent Scouts“ – Leute von der Uni begleiten erfolgreiche Schüler beim Übergang zum Studium, weisen auf Stipendien und andere Unterstützungsmöglichkeiten hin. Einfach, weil diesen Schülerinnen und Schülern zu Hause solche Wege nicht aufgezeigt werden oder man erwartet, dass die Kinder die gleichen beruflichen Laufbahnen einschlagen wie ihre Eltern.
Deshalb vertrete ich die These, dass es immer noch keine Chancengleichheit gibt in Deutschland und erst recht keine Chancengerechtigkeit. Das Bild von der nach oben durchlässigen Bildungsgesellschaft stimmt einfach nicht.
Talentierte Schüler zum Mitmachen in einem Verein zu bewegen, kostet enorme Kräfte
Wer arm ist, hat immer Angst. Angst, als arm entlarvt zu werden. Man hat vielleicht das richtige Handy und die richtigen Turnschuhe, aber man kann die vielen anderen Codes, die soziale Zugehörigkeit ausmachen, nicht bedienen. Die Bildungssprache, den richtigen Auftritt, die richtigen Hobbies. Wer Angst hat, dessen Denken ist blockiert; Angst wirkt sich nachweislich auf die Leistungsfähigkeit des Menschen aus. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass Angst dafür sorgt, dass man unfreiwillig die Fähigkeit verliert, sich in andere einzufühlen, andere Positionen besser verstehen zu können.
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Wer Angst hat, wer in Armut aufwächst, dem kommt der Kompass abhanden zu lernen: Was ist wichtig im Leben, was ist unwichtig? Angst drückt sich auch so aus: An unserer Schule gibt es viele junge, talentierte Sportler. Doch sie zum Mitmachen in einem Verein zu bewegen, einem Verein, der sogar in unserer schuleigenen Turnhalle trainiert, also an einem vertrauten Ort – das kostet oft enorme Kräfte. Es liegt daran, dass in dem Verein Menschen sind, die die Jugendlichen zunächst nicht kennen. Allein diese Schwelle zu übertreten, das Gewohnte zu verlassen, sich auf neue Menschen einzustellen, ist ein Schritt ‘raus aus der Armut und hat nichts mit finanziellen Verhältnissen zu tun.
Wie wir aus dem Armutsproblem rauskommen? Wir müssen das Problem der Ghettoisierung lösen. Wo 90 Prozent aller Schülerinnen und Schüler mit einer Hauptschulempfehlung kommen, so wie es an unserer und anderen Gesamtschulen manchmal der Fall ist, da wächst nur schwerlich ein unbeschwertes Lernklima. Man benötigt positive Vorbilder. Und ein Klima ohne Angst.“
Serie zum Thema Kinderarmut in Essen
Mehr als jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene gelten in Deutschland als armutsgefährdet, schreibt die Bertelsmann-Stiftung in ihrem Bericht von Januar 2023. Und: „Die Daten zeigen, dass sich die Lage nicht gebessert hat.“ Das trifft auch auf unsere Stadt zu, in der sogar fast jedes dritte Kind von Sozialleistungen lebt – trotz zahlloser Anstrengungen, Masterpläne und Projekte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Mancher mag die Nachrichten vom vermeintlich abgehängten Norden der Stadt, von Bildungsverlierern und vererbtem Sozialleistungsbezug nur noch achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Abfinden sollten wir uns damit nicht.
Im Rahmen einer Serie zur Kinderarmut wollen wir den 29.765 Kindern und Jugendlichen, die in Essen von SGB-II-Leistungen leben, ein Gesicht, eine Stimme geben. „Damit sich an dem strukturellen Problem der Kinderarmut endlich etwas ändert, sollte die Bundesregierung die angekündigte Kindergrundsicherung jetzt schnell und entschlossen auf den Weg bringen“, fordert die Bertelsmann-Stiftung. Wir fragen Experten vor Ort, welche Lösungswege sie sehen. Wir sehen uns an, wie Stadt, Wohlfahrtspflege und Ehrenamtliche Kinderarmut bekämpfen. Vor allem aber wollen wir die betroffenen Kinder fragen, was sie sich von ihren Eltern, der Politik, von Schule und Vereinen erhoffen.