Essen. Der NRW-Gesundheitsminister feiert die Videosprechstunden für Kinder als Erfolg. Das hat unsere Praxen nicht entlastet, sagen Essens Kinderärzte.

Das Angebot entstand in einer Krisensituation – und wird nun von der Landesregierung als wegweisend gefeiert: In den Weihnachtstagen 2022 richtete die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) eine kinderärztliche Videosprechstunde ein. Diese habe für eine „spürbare Entlastung“ gesorgt, sagt Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU). Fachärzte in Essen sehen das deutlich kritischer. „Die Belastung und zeitweilige Überlastung der Essener Kinder- und Jugendärzte haben die Videosprechstunden nicht verbessert“, sagt deren Obmann Dr. Ludwig Kleine-Seuken.

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In erster Linie sollte die Video-Beratung den kinderärztlichen Notdienst entlasten, der akut kranke Kinder nachts, an Wochenenden und Feiertagen behandelt: Angesichts einer heftigen Infektionswelle im November und Dezember fürchtete man, dass die Notfallpraxen zwischen den Jahren kollabieren könnten. Tatsächlich nahmen allein an Heiligabend und den beiden Weihnachtsfeiertagen 1100 Familien aus dem gesamten KV-Einzugsgebiet die Videosprechstunden wahr.

Essener Kinderärzte bemerkten keine Entlastung durch die Videosprechstunde

Rund der Hälfte der Patienten habe das Tele-Team abschließend helfen können, so dass sich die Fahrt zur Notfallpraxis erübrigte, heißt es über das Angebot, das Anfang Februar auslief. „Gleichzeitig wurden vor allem um die Weihnachtstage herum die stark frequentierten Kinderarztpraxen entlastet“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der KVNO, Dr. Carsten König.

Die Videosprechstunden der Kinderärzte seien gut angenommen worden, sagt die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO).
Die Videosprechstunden der Kinderärzte seien gut angenommen worden, sagt die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO). © dpa | Monika Skolimowska

Eine Beobachtung, die Ludwig Kleine-Seuken nicht teilt: „Die von mir befragten Essener Kinder- und Jugendärzte konnten von keiner Arbeitsentlastung durch den KV-Videoarzt berichten.“ Die schwere Infektwelle mit Corona-, RSV- und Influenza-A-Viren sei Ende Dezember abgeflaut. Trotzdem habe er am 1. Weihnachtsfeiertag 114 Patienten während seines elfstündigen Notdienstes versorgt. „Danach war ich platt.

Seit etwa drei Wochen gebe es eine „erneute Krankheitswelle, diesmal teils verursacht durch Streptokokkenanginen, aber auch durch andere Erreger. Manche Patienten entwickelten langanhaltend hohes Fieber“. Einige kleine Patienten mit schwerer Luftnot müssten stationär behandelt werden. „Auf eine erhöhte Nachfrage im Kindergesundheitsbereich treffen reduzierte Kapazitäten bei niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern.“

Familien mussten stundenlange Wartezeiten in Kauf nehmen

Dass die Telesprechstunde hier Abhilfe schaffe, bezweifelt Kleine-Seuken, der im Essener Norden praktiziert und wegen der Arbeitsüberlastung derzeit keine U10/und 11-Vorsorgetermine für Grundschulkinder vergeben kann. „In meiner Praxis hat in den letzten Monaten kein Elternteil von einem Videokontakt zur KV-Notdienst-Ambulanz berichtet, und dies scheint auch die übereinstimmende Beobachtung meiner Kolleginnen und Kollegen zu sein.“

Er selbst habe viele Patienten, deren Eltern nur unzureichend Deutsch verstünden und die Beschwerden der Kinder nicht genau beobachten und beschreiben könnten. Sie hätten kein Interesse an einer Videosprechstunde. In großen Infektzeiten hätten die Familien bei Kinderärzten oft stundenlange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen; viele Praxen seien zeitweilig telefonisch gar nicht erreichbar gewesen. „Dies führte dann zu einer zusätzlichen Verlagerung in den Notdienst, wo es ebenfalls zu langen Wartezeiten und untragbaren hygienischen Verhältnissen kam.“

Das relativiert das Fazit des KVNO-Vorstandsvorsitzenden, Dr. Frank Bergmann: „Die rege Inanspruchnahme und das Feedback der Nutzerinnen und Nutzer bestätigen unseren Eindruck, dass Telemedizin insbesondere in der jüngeren, digitalaffinen Elterngeneration sehr gut aufgenommen und entsprechend genutzt wird.“ Das zunächst auf fünf Wochen angelegte Projekt tauge somit als Blaupause für eine niedrigschwellige Telemedizin, die man ergänzend zur ambulanten Versorgung aufbauen wolle.

Vor allem Notfallpraxen sollten durch die kinderärztliche Videosprechstunde entlastet werden.
Vor allem Notfallpraxen sollten durch die kinderärztliche Videosprechstunde entlastet werden. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

„Telemedizinische Lösungen sind vor allem angesichts des akuten Fachkräftemangels eine wichtige Strategie für die Zukunft“, glaubt auch Gesundheitsminister Laumann. Tatsächlich kämpften viele Praxen seit langem mit vermehrten Krankmeldungen der Angestellten, die durch Mehrarbeit nicht auszugleichen seien, stimmt Dr. Kleine-Seuken zu. Und: „Neue Mitarbeiter sind nicht zu bekommen.“ Auch wünsche sich eine älter werdende Ärzteschaft „weniger Überstunden und gesicherte Freizeit“. Dass aber für das Tele-Team erfahrene Kinderärzte rekrutiert wurden, könne sich sogar kontraproduktiv auswirken, sagt Kleine-Seuken: „Mögliche Vertreter für Urlaub und Krankheitsfälle wurden durch lukrative Angebote der Impfzentren und jetzt der Videosprechstunde abgeworben.“

Telemedizin vor allem für gut gebildete Eltern geeignet

Eigene Videosprechstunden böten erst wenige Kollegen in ihrer Praxis an: „Auch weil sie dadurch ihre Sprechstunden mit Anwesenheitspflicht nicht reduzieren können.“ Grundsätzlich verdammen will der Obmann der Essener Kinderärzte die Telemedizin übrigens nicht: „Für einzelne, gut gebildete Familien kann das Angebot nützlich und hilfreich sein.“