Essen. Viele Essener Kinder haben aktuell Atemwegsinfekte, die Kinderarztpraxen sind voll. Etliche kleine Patienten liegen gar mit RS-Virus in Kliniken.
Früher als im Vorjahr, hat die Grippewelle die Essener Arztpraxen erreicht: Dass dazu auch noch andere Atemwegserkrankungen grassieren, bekommen besonders die Kinderärzte zu spüren, die derzeit förmlich überrannt werden. Einige der kleinen Patienten müssen sie mit dem Verdacht auf das RS-Virus an Krankenhäuser überweisen. Die Erkrankung, die mit Fieber, Husten, Appetitlosigkeit einhergeht, ist vor allem für Säuglinge bis zu sechs Monaten sowie für Frühchen gefährlich.
„Wir erleben dieser Tage einen starken Andrang von Kindern aller Altersgruppen“, sagt Dr. Ludwig Kleine-Seuken, der Obmann der Essener Kinder- und Jugendärzte. „Die meisten Kinder haben mehrere Tage Fieber mit Temperaturen um 40 Grad Celsius und einen insbesondere nachts auftretenden quälenden Husten.“ Andere kämen mit Bauchschmerzen und Erbrechen, seltener mit Durchfall.
Immunsystem ist nach zwei Jahren Pandemie nicht trainiert
Die „akute Häufung“ der Infekte werde durch mehrere Faktoren begünstigt, sagt der Mediziner. So hätten die Kinder wieder mehr Kontakte, meist ohne Masken: etwa bei den Martinszügen, aber auch bei Veranstaltungen in geschlossenen Räumen wie zum Auftakt der Karnevalssession. Das normale Leben kehre zurück und treffe nach zweieinhalb Jahren Pandemie wohl oft auf „ein Immunsystem, welches nicht trainiert ist“. Eine Rolle könne spielen, dass zur herbstlichen Witterung nun – aus Energiespargründen – kühlere Temperaturen zu Hause, in Kitas und Schulen kommen.
Der Infekt-Cocktail treffe auf Praxis-Teams, die selbst unter der Krankheitswelle und Personalengpässen leiden. So gebe es wegen der besseren Bezahlung eine Abwanderung an die Krankenhäuser. „Sicherlich haben wir Kinder- und Jugendärzte es derzeit schwer, unser geschultes Personal zu halten.“ Jeder Krankheitsfall könne „zu nicht mehr auffangbaren Einbußen in der Patientenversorgung“ führen.
Erschwert werde die Situation mitunter durch vermeidbare Anrufe: So meldeten sich Eltern, die die Probleme ihres Kindes zwar gut im Griff hätten, aber von der Schule aufgefordert würden, ein ärztliches Attest vorzulegen. „Nach Paragraf 43 Absatz 2 des Schulgesetzes NRW sollen die Entschuldigungen für Fehlzeiten ausdrücklich von den Eltern vorgenommen werden. Dies gilt auch bei Fehlzeiten von drei Tagen oder mehr“, betont der Arzt.
Kleine Kinder mit Verdacht auf RS-Virus kommen ins Krankenhaus
Andere Familien rufen offenbar auch wegen minder schwerer Infekte an. „An Werktagen steht das Telefon den ganzen Tag lang nicht still.“ Bei der Flut von Anfragen falle es den Angestellten häufig schwer, die dringenden von den weniger dringenden Fällen zu unterscheiden. „Da würden wir uns auch für unsere verbliebenen Mitarbeiter häufig mehr Verständnis von den Patienten-Eltern wünschen.“
Mit der Krankheitswelle steigt das Interesse an Impfungen
Auch in den Hausarztpraxen machen sich die grassierenden Atemwegsinfekte bemerkbar. „Unsere Infektionssprechstunde ist voll“, sagt etwa Dr. Lutz Rothlübbers, der in Katernberg in einer Gemeinschaftspraxis mit insgesamt acht Ärzten arbeitet. An einem der beiden Praxisstandorte bietet das Team seit der Corona-Pandemie die Infektionssprechstunde an, so dass hochansteckende Patienten von den anderen getrennt sind. Der Bedarf sei dort derzeit so groß, dass man kaum hinterherkomme. „Aber die Situation ist nicht über-dramatisch.“
Es gebe übrigens einen positiven Nebeneffekt der Krankheitswelle, sagt Rothlübbers: „Die Nachfrage nach Grippe- und Corona-Impfungen nimmt wieder deutlich zu.“ Längst biete man im praxiseigenen Impfzentrum nur noch alle 14 Tage einen Impftag an: „Aber der nächste ist schon ausgebucht, mehr als 120 Termine sind vergeben.“ Noch vor zwei Monaten seien es viel weniger gewesen: „Wir haben gut zu tun und es wird noch mehr.“
Zum Glück habe nur ein geringer Anteil der kleinen Patienten schwerwiegendere Probleme mit den Bronchien, so dass der Verdacht auf das Respiratorische Synzytial-Virus (RS-Virus) bestehe. „Diese Kinder werden nur zum Teil von uns getestet“, sagt Kleine-Seuken. „Den größeren Teil müssen wir bei reduziertem Allgemeinzustand ins Krankenhaus einweisen.“
Elisabeth-Krankenhaus spricht von hohen Patientenzahlen auf der Kinderstation
So betreut das Elisabeth-Krankenhaus 18 Kinder, die jünger sind als ein Jahr und an einer RS-Infektion leiden. „Der Spitzenwert lag bei 24 Kindern unter einem Jahr vor zwei Wochen“, sagt der Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am „Elli“, Dr. Claudio Finetti. „Die Infektionstendenz geht aber noch nicht nach unten, sondern ist stabil hoch.“ Der Mediziner betont, dass die Jahreszeit typisch für das RS-Virus sei, das sich durch Tröpfcheninfektion – etwa beim Husten und Niesen – verbreite. Auffällig sei in diesem Jahr, dass es häufig ganz kleine Säuglinge, teils sogar Neugeborene treffe, „die meiner Einschätzung nach schwerer betroffen sind als im letzten Jahr“.
Beim Personal schlage sich die Grippewelle noch nicht nieder, teilt das Elisabeth-Krankenhaus mit: Etwa 100 der 1600 Beschäftigten seien aktuell krankheitsbedingt nicht im Dienst. Im Regelfall könne man die Ausfälle ausgleichen, nur vereinzelt müsse man „für kurze Zeiträume Kapazitäten reduzieren“.
Ähnlich ist das Bild an der Uniklinik Essen, die von einem saisontypischen Krankenstand von knapp unter 10 Prozent berichtet: Verursacht vor allem durch Erkältungen und grippale Infekte; nur sechs der 10.000 Beschäftigten sind in Corona-Quarantäne. Wie das Elisabeth-Krankenhaus empfiehlt die Uniklinik den Mitarbeitern eine Grippe-Impfung und bietet sie auch an.
Personalmangel: Uniklinik muss zeitweilig Betten sperren
Nicht jeder Personalausfall lasse sich durch den Springer-Pool ausgleichen, punktuell müsse man immer wieder Betten sperren. Auch die Kinderklinik am Uniklinikum könne wegen des Mangels an Pflegekräften zeitweilig nicht alle Betten belegen. Dabei sei der Bedarf groß: „Derzeit liegen mehr Babys und Kleinkinder mit dem RS-Virus in der Kinderklinik als für diese Jahreszeit typisch.“
Der Höhepunkt ist vermutlich noch nicht erreicht: In anderen Städten schlagen die Kinderkliniken bereits Alarm. So schildert ein Kinderarzt in Münster: „Wir lagern einzuweisende Kinder schon nach Rostock aus.“