Essen. Der Kinderschutzbund Essen hat im ehemaligen Marienhospital eine Frühförderstelle für Kinder eröffnet. Die Wartelisten sind schon jetzt lang.
Die Zahlen sind nicht neu, aber weiterhin dramatisch: Bei den Schuleingangsuntersuchungen 2021 waren in Karnap nur knapp 32 Prozent der Kinder „ohne Gesundheitsstörungen“, in Altenessen-Süd waren es 44 Prozent – alle anderen starten ihre Schullaufbahn mit einem mehr oder minder gravierenden Handicap. Der Kinderschutzbund will nun gegensteuern mit seiner Interdisziplinären Frühförderstelle (IFF), die im Juni an den Start gegangen ist und im früheren Marienhospital sitzt. Die Warteliste ist schon jetzt lang.
Essens Kinderschutzbund, der sich nicht gerne als Reparaturbetrieb verstehen mag, hat seit Jahrzehnten vielfältige Präventionsformate entwickelt: „Was uns noch fehlte, war ein ganzheitliches Angebot mit Schnittstellen zu Ärzten und Eltern“, sagt der Kinderschutzbund-Vorsitzende Ulrich Spie. Bei der IFF gibt es nun umfassende Therapien an einem Standort: Zum interdisziplinären Team gehören Ärzte, Heilpädagogen, Physiotherapeuten, Psychologin, Logopädin und Ergotherapeutin. Sie betreuen Kinder, die in ihrer Entwicklung verzögert oder von einer Behinderung bedroht sind.
Förderung sollte lange vor der Einschulung beginnen
„Je früher die Förderung einsetzt, desto größer sind die Entwicklungschancen der Kinder“, sagt Gesundheitsdezernent Peter Renzel. Wenn bei den Schuleingangsuntersuchungen Defizite auffallen, sind die prägenden ersten drei Lebensjahre schon verstrichen. Die IFF nimmt daher schon Kinder im Babyalter auf und begleitet sie längstens bis zur Einschulung.
Mit einem Rezept vom Kinderarzt bekommen die Jungen und Mädchen in der Förderstelle eine ärztliche und eine pädagogische Eingangsdiagnostik. Anschließend wird ein Förderplan mit verschiedenen Elementen für sie aufgestellt – und die IFF bietet ihnen auch sämtliche Termine an. Viele Eltern stelle es vor große Herausforderungen, verschiedene Therapeuten für ihre Kinder zu suchen, Termine zu vereinbaren und womöglich längere Wege in Kauf zu nehmen – mancher gibt da auf. „Hier gehen uns die Kinder nicht verloren, weil alle Therapeuten im Stadtteil und unter einem Dach sind“, sagt Renzel.
Vor einigen Jahren hatte der Dezernent das Therapiezentrum des Kinderschutzbundes besucht, das Kindern bis zum Alter von 13 Jahren Logopädie und Ergotherapie anbietet, als Einzelangebote. Renzel regte an, ob die Kinderschützer nicht ergänzend eine IFF einrichten wollten: „Sie haben hier schon den Grundstock für die IFF, die uns im Essener Norden noch fehlt.“ Birgit Pammé, die beim Kinderschutzbund den Bereich Kindesentwicklung leitet, nahm die Anregung auf. Doch es sollten drei Jahre vergehen, bis die IFF im Juni 2022 starten konnte: Die Verhandlungen mit den Kostenträgern bei Krankenkassen und Landschaftsverband Rheinland seien „komplex“ gewesen, sagt Renzel.
Familien müssen nicht von einer Stelle zur anderen laufen
Umso dankbarer ist er, dass die Förderstelle nun steht. Eine möglichst frühe Unterstützung komme auch Kindern mit Behinderungen wie dem Down Syndrom zugute. „Ihre Eltern müssen bisher von einer zur anderen Stelle laufen: Hier gibt es eine warme Übergabe zwischen den Ärzten und Therapeuten sowie mit dem Gesundheitsamt und anderen Institutionen.“ Das IFF-Team hört auch mal nach, wenn Familien sich nicht mehr melden. „Manche wollen die Förderung gern und schaffen es im Alltag dann nicht“, sagt Birgit Pammé. „Aber wenn die Familien einmal Vertrauen gefasst haben, nehmen sie das Angebot sehr gut an.“
Dafür spricht auch die Warteliste: Aktuell werden im IFF 45 Kinder gefördert. „Mehr geht gerade nicht“, bedauert die stellvertretende IFF-Leiterin Vera Verhülsdonk. Denn weitere 70 stehen schon auf der Warteliste. Da die Förderung langfristig angelegt ist, werden in nächster Zeit keine Plätze für Nachrücker frei. Auch das benachbarte Therapiezentrum hat 180 Kinder auf der Warteliste. Die insgesamt 24 Fachkräfte der beiden Einrichtungen haben genug zu tun.
Mehr ginge natürlich immer, sagt Dezernent Renzel. Erstmal freue er sich aber, dass Essen nun eine weitere IFF habe, während es in anderen Städten noch keine gebe. „Wir sind schon mal super aufgestellt. Und für die Kinder auf der Warteliste suchen die Ärzte nach anderen Lösungen.“ Grundsätzlich gehe er davon aus, dass sich der ganzheitliche Ansatz der IFF durchsetzen werde.
Dezernent ärgert sich über Aus für Sprach-Kitas
Mit Blick auf die Schuleingangsuntersuchungen weist Ulrich Spie darauf hin, dass sich hier auch Lockdown-Folgen ablesen lassen, wenn etwa Koordinationsfähigkeiten und Sehvermögen abgenommen haben: Beides leidet, wenn Kinder viel vorm Bildschirm sitzen oder mit dem Smartphone hantieren. Dass im Essener Süden oft drei Viertel der Kinder keinen auffälligen Befund haben, in den nördlichen Stadtteilen dagegen meist nur die Hälfte, liege oft auch an sprachlichen Defiziten, ergänzt Peter Renzel. „Umso unverständlicher ist eine Bundespolitik, die in dieser Situation die Sprach-Kitas abschafft, ohne eine Anschlusslösung zu bieten.“
Dabei wüssten die Praktiker längst, wie wichtig es sei, die Kinder schon lange vor der Einschulung zu unterstützen, sagt Renzel: „Wir haben erkannt, was zu tun ist, nun müssen wir richtig rennen, um vor die Lage zu kommen.“