Ruhrgebiet. Immer mehr Polizisten werden im Einsatz angegriffen: Jeden Tag werden im Schnitt 65 Beamte zu Opfern. Warum die alte Uniform nicht mehr schützt.

Nie zuvor gab es in NRW so viele Angriffe auf die Polizei. Jeden Tag werden im Schnitt 65 Polizisten und Polizistinnen Opfer von Gewalt. 2023 waren es insgesamt 23.823, 3660 mehr als im Jahr davor. Ein erst kürzlich veröffentlichtes Lagebild des Landeskriminalamts zählt 9829 Taten gegen die Beamten, eine Zunahme von knapp 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr (8264). Im Gespräch mit dieser Zeitung beklagen Polizisten fehlenden Respekt – aber auch zu milde Sanktionen durch die Gerichte. Das sei zunehmend „frustrierend“.

Nach dem Jahreswechsel stand es wieder in den Polizeimeldungen im Land: Mehr Angriffe auf die Beamten in der Silvesternacht, davon 54 mit Pyrotechnik, 17 Polizisten verletzt, 76 Strafanzeigen wegen Widerstands und tätlicher Angriffe zählte das NRW-Innenministerium. Zwar gab es weniger Opfer unter den Einsatzkräften als im Jahr zuvor. Kommissare, die in der Nacht im Ruhrgebiet Dienst taten, erzählen dieser Zeitung jedoch von einem „Scheißgefühl“, wenn Menschen mit Feuerwerk auf Polizisten „schießen“, Mülltonnen in Brand setzen. „Ohne unseren massiven Einsatz“ – allein in NRW waren 7000 Polizisten von insgesamt 40.500 auf der Straße – „hätte es andere Bilder gegeben.“

Zahl der Opfer stieg seit 2019 um mehr als 5000 an

Doch Silvester ist nur ein Tag von 365 im Jahr, seit Jahren wird die zunehmende Gewalt gegen Einsatzkräfte, auch im Rettungsdienst, beklagt. Innenminister Herbert Reul (CDU) spricht im Zusammenhang mit dem jüngsten Lagebild von „erschütternden Zahlen“. Seit 2019 ist die Zahl der Opfer von Angriffen auf die Polizei um 5282 gestiegen. Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Michael Mertens ahnt: „Wir sind noch nicht am Höhepunkt dieser Entwicklung angelangt, die Spirale dreht sich weiter nach oben.“

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Eine Entwicklung, die auch bundesweit zu beobachten ist: Hier zählte das Bundeskriminalamt 2023 fast 106.000 Opfer in den Reihen der Polizei, bei insgesamt 46.218 Taten. Demnach steht NRW als bevölkerungsstärkstes Bundesland in beiden Kategorien in der Statistik ganz oben, nur in Bremen haben die Taten relativ zur Einwohnerzahl noch stärker zugenommen: um 20,7 Prozent.

In den meisten Fällen wurde wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ermittelt (57,4 Prozent), zu einem knappen Drittel wegen tätlicher Angriffe (29,8 Prozent). „Widerstand“, sagt ein Polizist aus dem Ruhrgebiet, „ist für uns immer brandgefährlich.“ Auch dass ein Messer gezogen werde, könne „in jedem Einsatz passieren“; 2023 zählte die Polizei 61 Angriffe mit Stichwaffen. 16-mal wurden Beamte 2023 mit einer Schusswaffe bedroht, neunmal wurde tatsächlich geschossen.

Manchmal „wahnsinnig wütend“: Eine Polizeioberkommissarin aus dem Ruhrgebiet erzählt dieser Zeitung, wie sie nach einem tätlichen Angriff monatelange in Angst lebte.
Manchmal „wahnsinnig wütend“: Eine Polizeioberkommissarin aus dem Ruhrgebiet erzählt dieser Zeitung, wie sie nach einem tätlichen Angriff monatelange in Angst lebte. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Gewerkschaft: „Der Alltag ist rauer geworden“

Schlagzeilen machten 2023 etwa der Täter von Ratingen, der Einsatzkräfte nach einem Hilferuf mit Benzinbomben erwartete. Die Autoattacke von Essen, bei der ein Polizist fast getötet wurde – beides Fälle von versuchtem Mord. Oder die Räumung des Braunkohle-Dorfes Lützerath, wo die Polizei im Januar vor zwei Jahren über Wochen im Einsatz war. Meist kommt Gewalt gegen die Polizei im normalen Alltagseinsatz vor. „Der Alltag ist rauer geworden“, sagt GdP-Chef Mertens, „der Umgang damit emotionaler.“ Gewalt sei für viele „das letzte Mittel, um Frust loszuwerden“. Immer weniger Menschen seien in der Lage, Konflikte mit Worten zu lösen. Das ende oft in körperlichen Auseinandersetzungen.

Die Tatverdächtigen werden dabei immer jünger: Um 13 Prozent wuchs die Zahl der Unter-14-Jährigen (52 Verdächtige), die der Unter-18-Jährigen erhöhte sich von 492 auf 547 (plus 11,18 Prozent). Mehr als drei Viertel der mutmaßlichen Täter in NRW sind männlich (6965). Eine Mehrheit hat einen deutschen Pass (5499, plus 11,18 Prozent). Die Zahl der nicht-deutschen Verdächtigen liegt mit 2959 niedriger, allerdings wuchs der Anteil von Ausländern wesentlich stärker: um 24,17 Prozent. Gegen wie viele Täter mit Migrationshintergrund ermittelt wurde, wird in der Statistik nicht erfasst.

Polizei fordert Messerverbote und Taser für alle Behörden

Verletzt wurden bei den Übergriffen 4514 Polizisten, 24 davon schwer. Oftmals, sagen die Kommissarinnen und Kommissare im Gespräch, sei es lediglich Glück, dass nicht mehr Kollegen verletzt würden. „Der Beruf ist gefährlich, und wir sind zu wenige.“ Die Polizei wünscht sich von der Politik weitere Messerverbote und den flächendeckenden Einsatz von Tasern. Noch immer gibt es den „Elektroschocker“ nicht einmal in jeder zweiten Behörde. Der Taser aber, sagt auch Gewerkschaftsmann Mertens, sei „für beide Seiten schonend“, allein die Drohung, ihn einzusetzen, habe schon zahlreiche Auseinandersetzungen verhindert.

Will Taser für alle Polizeibehörden in NRW: Michael Mertens, Landeschef der Polizeigewerkschaft GdP.
Will Taser für alle Polizeibehörden in NRW: Michael Mertens, Landeschef der Polizeigewerkschaft GdP. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Wie stark die Gefahr gewachsen ist, zeigt nach seiner Ansicht der schlichte Blick auf die Uniformen: „Im Jahr 2000 hatten wir Hose, Hemd, Jacke. Heute gehen wir mit kompletter Schutzbekleidung inklusive Weste auf die Straße. Das ist kein freiwillig gewähltes Schicksal, das ist notwendiger Arbeitsschutz.“

Zudem beklagen viele Polizisten, dass die Gerichte Verdächtige am Ende eines langen Verfahrens oft nur milde bestrafen. „Das ist frustrierend“, äußert ein Beamter im Gespräch: Oft seien die Kollegen noch mit einer Anzeige beschäftigt, da sei ein Festgenommener bereits wieder frei. Michael Mertens fordert deshalb vom Staat ein „sehr beschleunigtes, klares Verfahren“. Der Staat dürfe ruhig zeigen, dass das Strafmaß auch ausgeschöpft wird. „Das hätte Signalwirkung.“

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