Ruhrgebiet. Ein Flüchtender stößt einen Polizisten die Treppe hinunter, in dessen Schulter reißen alle Muskeln. Ein Dienstunfall ist das trotzdem nicht.

Tritte, Schläge, Messer: Jeden Tag werden in NRW 65 Polizistinnen und Polizisten Opfer von Gewalt, insgesamt zählt die jüngste Statistik 23.823 Betroffene. Auch die Zahl der Taten steigt: zuletzt auf 9829, eine Zunahme von knapp 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Hier erzählen Polizeibeamtinnen und -beamte aus dem Ruhrgebiet, wie sie Gewalt im Einsatzalltag erleben – und was das mit ihnen macht.

Polizeioberkommissar (31), seit acht Jahren im Wach- und Wechseldienst:

„Ich hatte Frühdienst, unsere Aufgabe war eine allgemeine Verkehrskontrolle. Als einer nicht anhielt, dachte ich erst, der hätte uns nicht gesehen. Aber er fuhr so schnell, da war klar: Der will nicht anhalten. Er gab sogar Gas, wir hinterher, mitten durch die Innenstadt. Wir hatten Mühe, dranzubleiben, der fuhr Höchstgeschwindigkeit. Nicht die erlaubte, die seines Autos.

Doch dann hatte der Mann einen Unfall, wir glaubten: Der hat verloren, der muss jetzt aufgeben. Aber er nahm die Beine in die Hand und rannte. Ich raus dem Auto, hinterher. Es war der pure Jagdinstinkt, ich dachte: Der haut mir nicht ab! Wir rannten bis zu einer langen Treppe. Auf dem Weg nach unten drehte er sich plötzlich um und hat mich hinuntergestoßen. Ich bin tief gefallen, wohl auf meinen rechten Arm.

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Allein und verletzt: „Hätte nicht einmal schießen können“

Als er an mir vorbei wollte, habe ich mich auf ihn gestürzt und wollte ihn fixieren – aber mein Arm war nicht mehr zu gebrauchen. Ich war vollkommen alleine, dann kam der Schmerz, ich bekam Panik: Da saß ich, versuchte den Mann mit den Beinen festzuhalten. Ich bin Rechtshänder, ich hatte keinen Schlagstock, ich hätte nicht einmal schießen können. Ich musste warten, dass irgendjemand kommt, um mir zu helfen. Zum Glück hat mein Kollege mich gesucht – und gefunden.

Als sie mir später im Rettungswagen die Uniform zerschnitten, war mein erster Gedanke: Das kannst du doch nicht machen, ich kriege dieses Jahr doch kein neues Hemd mehr! Im Krankenhaus musste ich operiert werden. Ich hatte mir alle vier Muskeln in der Schulter abgerissen, jetzt habe ich acht Narben von acht Löchern und zwölf Stahlhaken im Körper.

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Ich hatte schreckliche Schmerzen, konnte ein Vierteljahr nur im Sitzen schlafen. Aber es ist nicht nur der Moment, sondern das, was danach kommt; das war fast noch schlimmer: Sechs Monate lang war ich dienstunfähig, eigentlich. Nur war ich noch Beamter auf Probe, deshalb bin ich so schnell wie möglich zur Arbeit zurückgekehrt. Aus der Not heraus, ich hatte Angst um meinen Job. Die Frage war ja auch: Kann ich jemals wieder als Polizist arbeiten?

„Man fragt sich: Wozu mache ich das überhaupt?“

Es hat sechs Jahre gedauert, bis es endlich ein Verfahren gegen den Täter gab. Es macht etwas mit uns Polizisten, wenn Täter nicht viel zu befürchten haben und nur geringfügig bestraft werden. Manchmal fragt man sich dann schon: ,Wozu mache ich das überhaupt?‘ Messer etwa finden wir immer häufiger, bei ganz normalen Durchsuchungen, man wundert sich schon gar nicht mehr. Oft wird einem erst nachher bewusst, in welcher Gefahr man war. Bei der Polizei steckt doch immer ein Mensch hinter der Uniform!“