Ruhrgebiet. Messertaten nehmen zu, auch junge Menschen haben häufiger eines in der Tasche. Warum schon Jugendliche meinen, sich verteidigen zu müssen.
Das Messer als Waffe kommt in diesen Tagen nicht mehr aus den Schlagzeilen, nicht nur in Solingen, seither in Moers, Dorsten, Recklinghausen. Nicht nur gefühlt, auch tatsächlich, sagen Ermittler, wird das „Tatmittel Messer“ häufiger und schneller gezogen. Das beweist auch die Statistik für 2023, die NRW-Innenminister Herbert Reul in dieser Woche vorgestellt hat. Aber warum steckt es überhaupt in der Tasche?
Das Messer als Waffe ist billig, unauffällig – und lebensgefährlich. Angriffe enden oft mit schweren Verletzungen, dem Tod des Opfers oder auch des Täters, wie in den vergangenen Tagen mehrfach geschehen, als die Polizei gegen Messertäter zur Waffe griff. , Von „Vehemenz“ sprach der NRW-Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Michael Mertens, schon vor Monaten gegenüber dieser Zeitung. Die Statistik bestätigt das, Kollegen versicherten Mertens aus Alltagserfahrungen, dass Messertaten „tatsächlich immer mehr“ würden – und das überwiegend bei männlichen Jugendlichen und jungen Männern. „Bei Konflikten und körperlichen Auseinandersetzungen wird das Messer häufiger eingesetzt.“
Ermittler: Jungen Leuten fehlt die Fähigkeit, Konflikte auszuhalten
Das kommt, vermutet Mertens, auch dadurch, dass viele es verlernt oder gar nicht erst gelernt hätten, „Konflikte mit Worten zu lösen“. Solche Menschen neigten im Streitfall schneller dazu, Waffen einzusetzen. Ein Ermittler aus dem Ruhrgebiet bestätigt das im Gespräch mit dieser Zeitung: Er beobachte nicht nur bei jungen Menschen eine fehlende Fähigkeit, Konflikte zu ertragen oder Nachteile auszuhalten. Überdies sei die Hemmschwelle gesunken: „Vielleicht hatten manche früher auch schon ein Messer dabei, aber die haben nicht zugestochen.“
Auffällig ist: Auch Kinder und Jugendliche führen immer häufiger ein Messer mit sich. Der Kripomann beobachtet das Mitführen von Messern bereits bei Kindern ab zwölf Jahren, „die Altersentwicklung nach unten ist erschreckend“. Warum? Die Polizei kann das nur vermuten. Ein Messer in der Tasche zu haben, sagt Mertens, sei heute „angesagt und schick“ – und wenn jemand meine, eines bei sich tragen zu müssen, täten andere es ihm nach. „So schaukeln sich die Ereignisse hoch, und das große Drama ist vorprogrammiert.“ Denn wenn einer erst ein Messer dabei hat, steige die Gefahr: „Was in der Hosentasche ist, ist auch schnell in der Hand.“
Entschuldigung: „Ich brauche das Messer, um mich zu verteidigen“
Auch sein Kollege aus Oberhausen sieht einen gewissen Gruppenzwang, wie oft hat er diese Entschuldigung gehört: „Ich brauche das Messer, um mich zu verteidigen.“ Das klingt nach der Kriegslogik einer vermeintlichen Waffengleichheit. Oder es ist so: „Es geht darum, stärker zu sein.“ Die Frage, warum meistens Männer Messer bei sich trügen, beantworteten sie der Polizei meistens so: Heutzutage müsse man eines dabeihaben. Je „normaler“ das werde, sagt der Beamte, desto mehr stiegen die Zahlen.
Ein Messer zu besorgen, das kann jedes Kind, einfacher jedenfalls als eine Schusswaffe. Vielfach verhindere das Elternhaus das nicht einmal, ahnt der Ermittler: Mancher Nachwuchs werde eher gar nicht, anderer „über“-erzogen, nach dem Motto: „Mein Sohn darf alles.“ Die Steigerung der Messertaten sei, sagt GdP-Chef Mertens, „keine Frage der nationalen Herkunft, sondern des Umfelds, in dem man groß wird“.
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Sieht man hier die viel beklagte Verrohung der Gesellschaft? Derjenige, „der heute zusticht“, vermutet der Kripomann aus dem Revier, „hat vielleicht früher vielleicht auch schon zugetreten“. Und setze das Messer nun „sehr kompromisslos“ ein: „Wenn es länger wäre, würde es noch tiefer in den Körper eindringen. Sehr erschreckend.“
Polizeigewerkschaft: Man muss das Thema benennen
Insgesamt steigt die Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen, wie die Polizeiliche Kriminalstatistik sagt. 2023 ist die Zahl der jungen Straftäter in NRW um fast ein Fünftel angewachsen, auch im Bereich der Gewaltdelikte nahm sie landesweit zu. Und auch die Messertaten werden mehr, und das nicht mehr nur „gefühlt“, wie es vor Jahren noch diskutiert wurde. Man könne das „Gefühl“, sagt GdP-Chef Mertens, inzwischen „versachlichen“: Seit 2019 weist das Innenministerium von Herbert Reul (CDU) Straftaten mit dem „Tatmittel Messer“ gesondert aus. Er reagierte damit auf die öffentliche Debatte: Man brauche Fakten statt Spekulationen. Auch Gewerkschaftsmann Mertens sagt: „Man muss das Thema benennen.“
Als Messertat werden Delikte indes nur gewertet, wenn die Waffe mindestens als Drohmittel eingesetzt wird. Trägt jemand ein verbotenes Exemplar in der Tasche, ist das ein Verstoß gegen das Waffengesetz. Der Bund rechnet im übrigen anders: Für ganz Deutschland werden die tatsächlichen Messerangriffe erhoben.
Die Polizei-Studie „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“ (SKiD) ergab kürzlich, dass von 200 Leuten, denen man auf der Straße begegnen, drei ein Messer bei sich haben. Die Dunkelziffern sind dabei vermutlich hoch: Konflikte, bei denen niemand schwer verletzt wird, werden innerhalb bestimmter Milieus – etwa im Bereich Wohnungsloser oder auch krimineller Clans – womöglich gar nicht angezeigt.
Minister Reul sagt schon lange: „Menschen müssen verstehen, dass sie keine Messer brauchen.“ Wie das aber zu erreichen ist? Die Gewerkschaft der Polizei setzt auf Prävention. In Schulen oder Sportvereinen müssten junge Menschen aufgeklärt werden darüber, wie gefährlich Messer sind. „Die breite Masse unterschätzt das“, sagt GdP-Chef Mertens. Das ist schwer vorstellbar, andererseits: „Die meisten jungen Menschen wissen auch, wie gefährlich Autounfälle sind. Und fahren trotzdem so, als seien sie unsterblich.“ Zudem seien gerade Jüngere geprägt von Fernsehfilmen, Krimis und Videos, „wo Menschen getötet werden, wieder aufstehen und einfach weitermachen“.
Jeder Täter muss spüren: Das ist kein Spaß
Die Behörden müssten energisch genug eingreifen, sagt der Kriminalpolizist: „Jemandem, der keinen Respekt hat, muss ich das klarmachen.“ Die Wege in der Rechtsprechung seien dafür aber zu lang. Ein junger Mensch müsse „spüren, das ist kein Spaß“.
Wichtig findet auch Mertens, dass die große Mehrheit derjenigen, die kein Messer bei sich tragen, die anderen stoppten: „Mach das Ding weg, sonst gehe ich nicht mit dir in die Disco!“ Auf solche Botschaften setzt auch der Minister: „Eine Stichwaffe ist kein Handy und keine Geldbörse und darf deshalb niemals zu den gewöhnlichen persönlichen Gegenständen gehören“, sagt Reul gerne. „Messer gehören in die Küche, nicht auf die Partymeile“, wiederholt er. „Gehen Sie nicht mit einem Messer spazieren!“