Gelsenkirchen. Armut definieren Gelsenkirchener Schülerinnen und Schüler sehr unterschiedlich. Sich selbst schätzen die wenigsten als arm ein.
- Armut verbinden Gelsenkirchener Elftklässler eher mit Kindern in anderen Ländern.
- Die Armutsquote in Deutschland schätzen die Jüngeren sehr gering ein.
- Für manch älteren Schüler beginnt Armut allerdings schon mit dem falschen Handy.
Was bedeutet Armut für Kinder? Was verbinden sie damit? Wie wirkt sie sich aus? Wir haben Jugendliche in der Gertrud-Bäumer-Realschule (GBR) und Sechstklässler in der Gesamtschule Ückendorf (GSÜ) gefragt. Die meisten wollten anonym bleiben, daher sind alle Namen mit * geändert.
Die Sechstklässler der GSÜ
Bemerkenswert ist die Einschätzung der Elfjährigen, wie verbreitet Armut in Deutschland ist. Sie gehen davon aus, dass in Deutschland nur ungefähr zwei Prozent der Menschen arm sind. 25 Prozent seien „normal“, der Rest sei reich. [Zum Thema: Ruhrgebiet ist von Armut besonders stark betroffen]
Wer ist eigentlich arm?
Die Antworten der Klasse reichen von „Wer sich nicht alles kaufen kann“, über „Kinder, deren Eltern nicht arbeiten gehen“, „Bettler und Obdachlose“. Ayleen* glaubt, dass „Kinder gar nicht arm sein können“, Muhammed* sagt: „Wenn die Eltern arm sind, ist das Kind auch arm“. [Lesen Sie auch: Der Kinder-Kleiderschrank der Tafel ist gut gefüllt]
Gibt es arme Kinder in Deutschland? Kennt ihr welche?
„Nein. Die gibt es eher in anderen Ländern“, sagt Taner*. Anas* (11) hat beobachtet, dass „manche Kinder bei uns in der Straße arm sind. Die gehen auch nicht zur Schule. Die sind den Eltern egal. Die sind arm.“ Sandra* denkt dabei an alte Menschen, die Flaschen sammeln: „Ich glaube, die sind auch arm.“ Für Methi* und andere Klassenkameraden ist klar: Armen muss man etwas abgeben, „das gehört auch zu unserer Religion“.
Sind reiche Kinder glücklicher?
Nicht nur Sandra* ist entrüstet. „Nein! Man sollte sich auch gar nicht an anderen orientieren.“ Taner* fragt: „Was soll ich mit fünf Autos? Wofür braucht man die?“ Und Ayshe* sagt: „Reiche geben Geld für dumme Sachen aus, die gar nicht glücklich machen. Ein teures Bild zum Beispiel. Oder sie spielen in Casinos und verzocken ihr Geld und sind dann auch arm.“
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Adil* hat eine eigene Erfahrung gemacht: „Der Vater meines früheren Freundes ist reich, der fährt ein dickes Auto und gibt dem Sohn immer 50 Euro und dann soll er rausgehen. Vielleicht will der auch angeben damit. Aber jetzt kommt mein Freund gar nicht mehr raus. Er kauft sich für das Geld ,Fifa’ und spielt dann nur noch Computer drinnen und gar nicht mehr mit uns anderen.“
Die 13- bis 16-Jährigen der Gertrud-Bäumer-Realschule
Woran erkannt man ärmere Mitschüler?
Man erkennt es, „wenn einer drei Wochen in derselben Hose kommt. Und manchmal riecht man es dann auch“, glaubt Laura* (14). Lena* (14, verdeckt verschämt ihre Smartwatch am Arm): „Schuhe und Smartphones sind bei uns wichtig. Earpods sind eigentlich Standard, aber sehr teuer. Wenn du nur die Kopfhörer mit Kabel hast, solltest du dir die in der Schule nicht in die Ohren stecken.“
Sina* (15) dreht den Spieß um: „Ich trage in der Schule andere Sachen als privat. Wenn du in der Schule eine teure Uhr trägst, kriegst du ‘nen Spruch gedrückt. Vor allem in den oberen Jahrgängen ist das so.“ Lukas* (13) bestreitet, dass Armut eine Rolle spielt im Miteinander in seiner Klasse. „Wenn einer etwas nicht hat, gibt man eben ab. Man merkt ja auch, wenn einer raue Haut hat, dann bringt man was mit. Bei uns wird keiner ausgegrenzt.“
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Über Urlaub wird in der Schule nicht viel gesprochen
Das versichern die meisten. Auf Nachfrage zeigt sich, warum. Während Sina* mehrfach im Jahr reist, war Melanie* (14) das letzte Mal vor vier Jahren im Urlaub. Sie feiert auch ihren Geburtstag nur in der Familie, nicht mit Freunden. Lukas* lädt gern zum Soccer oder in den Trampolinpark. Wenn andere das nicht können, sei das kein Problem. [Lesen Sie auch: So stellt sich eine Schule in Gelsenkirchen gegen Rassimus]
Wirkt sich ein knappes Familienbudget auf das Lernen aus?
„Es haben nicht alle immer alle Materialien“, sagt Karla*. „Im Distanzunterricht war es extrem. Manche hatten gar kein Internet oder nur ein Handy für mehrere Geschwister.“ Karl* (15) hat eine bittere Beobachtung gemacht: „Manche denken auch schlecht von sich, weil sie nicht alles haben und alles können. Die halten sich sehr zurück, um nicht aufzufallen.“ [Lesen Sie auch: Corona verschärft Bildungsungerechtigkeit]
Lesen Sie hier alle Artikel unseres Schwerpunkts zur Kinderarmut in Gelsenkirchen:
- In keiner Stadt in Deutschland ist neben Bremerhaven mit rund 42 Prozent das Armutsrisiko für Kinder höher als in Gelsenkirchen. Zum Artikel.
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