Essen. Die Corona-Pandemie trifft Schüler mit Lern- und Verhaltensproblemen besonders hart. Was Schulen nun von der Politik fordern.
Schülerinnen und Schüler stellt die Corona-Pandemie vor besondere Herausforderungen. Der Unterricht hat monatelang nur auf Distanz stattgefunden, die Kinder und Jugendlichen waren auf sich allein gestellt. Die Folge: Viele von ihnen haben erhebliche Lernrückstände, die Bildungsungleichheit wächst.
„Ich bin unfassbar entsetzt darüber, wie wenig Deutsch die Schüler können“, sagt Julia Gajewski, Leiterin der Gesamtschule Bockmühle in Essen. Die Auswirkungen der Schulschließung zeigt sich laut Gajewski aber nicht nur an den sprachlichen und fachlichen Kenntnissen, sondern auch am Verhalten der Kinder und Jugendlichen: „Viele wurden zu Hause kaum betreut. Es ist so eine Art Darwinismus der Straße, der jetzt in die Schule kommt.“
Schul-Bündnis in NRW fordert mehr Entscheidungsfreiheit
Dass sich die Folgen der Pandemie an ihrer Gesamtschule so deutlich bemerkbar machen, wundert Gajewski nicht. Viele Schülerinnen und Schüler hätten keine familiäre Unterstützung bekommen und nicht die Chance gehabt, in Ruhe zu Hause zu lernen. Probleme, die für Gajewski und ihr Kollegium nicht neu sind. Denn aufgrund des schwierigen Standortes im Essener Westen betreuen die Lehrkräfte überwiegend Kinder aus „bildungsfernen und prekären Verhältnissen“ und werden damit vor besondere Herausforderungen gestellt.
Auf diese könnten sie allerdings nicht angemessen reagieren, da ihnen die organisatorische und pädagogische Freiheit fehle. Daher haben sich bereits Anfang 2020 in ganz NRW Schulen, die durch ihre „prekäre Lage“ gekennzeichnet sind, im Bündnis „Schule hoch drei“ zusammengeschlossen – und ein „Umsteuern in wichtigen schulpolitischen Bereichen“ verlangt. Mit dieser Forderung treten sie nun erneut an die Politik heran.
Mehr Stellen, alternative Prüfungen, kein fester Lehrplan
So sollten Schulen dem Bündnis zufolge etwa die Möglichkeit bekommen, anstatt in großen Klassen in kleineren Gruppen zu unterrichten. Wie sinnvoll das laut Gajewski für den Lernerfolg ist, hat die Phase der Pandemie gezeigt, in der die Lehrkräfte nur mit der Hälfte der Klasse vor Ort arbeiten konnte.
Gleichzeitig fordern die beteiligten Schulleitungen 20 Prozent mehr Stellen. Sie wollen zudem zentral festgelegte Klassenarbeiten durch alternative Prüfungen ersetzen und die Anzahl der Klausuren insgesamt reduzieren. „Wir müssen abweichen dürfen, damit wir eine Chance haben, aus den Kindern ausbildungsfähige Menschen zu machen“, betont Gajewski.
Schulen sollten außerdem nicht mehr an den offiziellen Lehrplan gebunden sein und gleichzeitig Stundentafeln aussetzen können – auch, um flexibel auf die Corona-Lage reagieren zu können. „Wir gehen davon aus, dass Corona uns noch länger beschäftigen wird. Es kann sein, dass wir immer im Winterhalbjahr unter großen Einschränkungen arbeiten müssen“, warnt Bündnis-Sprecherin Dorothee Kleinherbers-Boden.
Gelsenkirchener Schulleiter: „Das Bildungssystem muss sich ändern.“
Die Forderungen begrenzen sich allerdings nicht auf den Zeitraum der Pandemie, das Bündnis strebt ein langfristiges Umdenken im Bildungssystem an. Dass dies notwendig ist, beobachtet auch Achim Elvert täglich. Er leitet die Gesamtschule Ückendorf in Gelsenkirchen. Viele seiner Schüler und Schülerinnen hätten Lern- und Verhaltensprobleme und nicht die Ressourcen, ihren Rückstand unter den aktuellen Voraussetzungen aufzuholen.
Während die Politik darauf drängt, möglichst schnell zur Normalität im Schulbetrieb zurückzukehren, fordert Elvert daher das Gegenteil: „Die Normalität würde für uns heißen, dass der Graben im Bildungssystem, der durch Corona noch größer geworden ist, nicht mehr zugeschüttet wird. Wir sollten also auf keinen Fall zurück zur Normalität, sondern erkennen, dass das Bildungssystem sich ändern muss.“