Etwa 50.000 Deutsche haben viel Geld mit Lehman-Zertifikaten verloren. Eines der Opfer, ein Rentner aus Varel, zieht vor Gericht.
Bremen/Varel. Dass er 30.000 Euro verloren hatte, erfuhr Jürgen Hillebrand aus den Nachrichten. Die Fernsehsender zeigten am Abend des 15. September 2008 alle dieselben Bilder: Mitarbeiter der US-Bank Lehman Brothers, die in Scharen Kartons aus den Büros trugen. Erst zwei Wochen später erhielt Hillebrand einen Brief von seiner Hausbank, der ihn informierte, dass seine Zertifikate wertlos seien.
Mit seinem weißen Vollbart wirkt Hillebrand so gutmütig wie der Weihnachtsmann. Doch klein beigeben ist nicht seine Art. Er beauftragte einen Anwalt, der für ihn jetzt die New Yorker Ratingagentur Standard & Poor`s (S&P) verklagt. Er hätte auch seine Bank vor Gericht bringen können. Stattdessen legt sich der Frührentner aus der niedersächsischen 25.000-Einwohner-Stadt Varel mit einem Riesen der Finanzmarktbranche an. David gegen Goliath.
„Irgendwann muss man sich ja wehren“, sagt der 61-Jährige. „Ich hoffe, dass wir zumindest ein bisschen Staub aufwirbeln.“ Mit seiner Klage könnte Hillebrand Rechtsgeschichte schreiben. In den USA laufen bereits mehrere Verfahren gegen Ratingagenturen, hierzulande ist es nach Angaben der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW)jedoch das erste.
Mit „A+“ hatte S&P die Lehman-Zertifikate „Alpha Express“ beurteilt, die Hillebrand im Mai 2008 von der Citibank kaufte. Die gute Bewertung überzeugte ihn. Dass er sein Geld komplett verlieren könnte, verschwieg ihm der Bankberater. „Das war für die Altersvorsorge gedacht. Wir wollten eigentlich eine sichere Anlage“, erzählt der Frührentner.
Zwar stufte die Ratingagentur Hillebrands Zertifikate später auf die immer noch gute Bewertung „A“ herab. „Drei Tage vor der Lehman- Pleite hat S&P die Note aber noch einmal bestätigt“, erläutert Hillebrands Anwalt Jens-Peter Gieschen von der Kanzlei KWAG. Dabei hätten die Experten zu dem Zeitpunkt längst erkennen müssen, wie schlecht es um die Kreditwürdigkeit der Investmentbank steht. „Es wurde schon Monate vorher in den Medien über eine Insolvenz diskutiert. Trotzdem hat sich an dem Rating nichts geändert.“ Nach Ansicht von Gieschen muss S&P für die Bewertung haften.
Gemeinsam mit dem Rechtswissenschaftler Kai-Oliver Knops, der an der Universität Hamburg Bank- und Kapitalmarktrecht lehrt, reichte Gieschen eine Schadenersatzforderung beim Landgericht in Frankfurt ein, wo die deutsche Zweigstelle von S&P sitzt. „Natürlich betreten wir hier juristisches Neuland“, räumt Gieschen ein. Er rechnet daher mit einem langwierigen Verfahren, dass sich durch mehrere Instanzen ziehen wird. „Die Ratingagenturen können es sich gar nicht leisten, ein Urteil gegen sich stehen zu lassen.“
Die Anlegerschützer der DSW zweifeln dagegen an den Erfolgsaussichten der Klage. „Ratingagenturen arbeiten viel mit Annahmen und Prognosen. Wie will man ihnen nachweisen, dass sie diese böswillig falsch getroffen haben?“, sagt Sprecher Marco Cabras. Dennoch rechnet er mit weiteren Klagen dieser Art. Viele der schätzungsweise 50.000 deutschen Lehman-Opfer seien wütend auf die Ratingagenturen. „Sie gehören zu den Hauptverdächtigen der Finanzmarktkrise.“
Auch an anderen Fronten geraten Bewertungsunternehmen wie S&P, Moody's und Fitch zunehmend unter Beschuss. Die US-Regierung führte jüngst strengere Spielregeln für Ratingagenturen ein und will Klagen gegen diese künftig erleichtern. Die Europäische Union plant sogar eine Aufsichtsbehörde, die die Agenturen regulieren soll.
Auch S&P selbst gibt sich reumütig. In einem Interview mit dem „Handelsblatt“ räumte S&P-Chef Deven Sharma Fehler ein – vor allem hinsichtlich der US-Immobilienkrise. In diesem Bereich habe das Unternehmen mit seinen Annahmen tatsächlich gründlich danebengelegen.
Zu der Klage von Hillebrand wollte sich die deutsche S&P- Niederlassung nicht äußern, da diese noch nicht vorliege. Ob es überhaupt zu einem Prozess kommt, ist noch unklar: Zurzeit prüft das Landgericht, ob es tatsächlich zuständig ist.