405 Quadratkilometer des Wilkins-Schildes auseinandergefallen. Wissenschaftler: Klimawandel läuft schneller als erwartet.

Hamburg. Ein riesiger Eisberg mit einer Fläche von knapp hundert Quadratkilometern ist aus dem antarktischen Schelfeis herausgebrochen. "Das ist noch gar nicht so dramatisch. Aber infolge des Kalbens des Gletschers ist ein Gebiet von 405 Quadratkilometern des sogenannten Wilkins-Schildes zerfallen", erläuterte Dr. Klaus Grosfeld, Polarforscher am Alfred-Wegener-Institut (AWI) im Gespräch mit dem Abendblatt. Damit hat sich insgesamt Eis von rund 500 Quadratkilometern, etwa zwei Drittel der Fläche Hamburgs, abgelöst.

Das Wilkins-Schelfeis liegt rund 1000 Kilometer vor der Südspitze Südamerikas an der südwestlichen antarktischen Halbinsel. "Diese Entwicklung bereitet uns große Sorgen, weil sie ein Hinweis darauf ist, dass der Klimawandel in der Antarktis nicht nur stattfindet, sondern dass er schneller als erwartet abläuft", sagte Grosfeld.

Auch der Vorsitzende des Weltklimarates, Rajendra Pachauri, äußerte sich "sehr besorgt" über das beschleunigte Abschmelzen der Polkappen. Auf dem "Extrem-Wetterkongress" in Hamburg, auf dem 700 Experten bis Freitag beraten, bezeichnete der deutsche Expeditionsleiter Arved Fuchs den Rückgang des polaren Eises als "bedrohlich".

In der Tat sei dieser Vorgang außergewöhnlich und völlig unerwartet, sagte Dr. Klaus Grosfeld, der sich auf die Informationen des Zentrums zur Sammlung von Schnee- und Eisdaten an der Universität Colorado (NSIDC) berief. "Bislang dachte man, dass es noch gut 20 Jahre dauern würde, bis dieser Effekt auch im südlicheren Bereich der antarktischen Halbinsel auftreten würde. Bisher kennen wir dieses Zerfallen von großen Eisplatten nur in den Regionen des Larsen-Schelfeises, das auf der nördöstlichen Seite der antarktischen Halbinsel liegt. Dort haben wir solche Zerfallsprozesse häufiger schon beobachtet." So sind in den vergangenen Jahren bereits zwei Teile des Larsen-Schelfeises zerfallen. Es begann 1995 mit dem 75 Kilometer langen und 37 Kilometer breiten Schelf Larsen A. Im März 2002 beobachtete ein Nasa-Satellit dann die Auflösung von Larsen B, einer Menge von 720 Milliarden Tonnen Eis.

Auch beim Wilkins-Schild müsse man sich den Prozess so vorstellen, dass die Eisplatte in "kleine" Würfel zersplittere, sagte Grosfeld. Jeder dieser Würfel, die jetzt im Meer treiben, habe "die Größe eines Einfamilienhauses". Ein Forscher der Britischen Antarktis-Gesellschaft, der nach dem Abbruch des 45 mal zwei Kilometer großen Eisbergs am 28. Februar von einem Schiff aus ein Video darüber gedreht hatte, verglich das Ausmaß der Zerstörung mit derjenigen nach einem Bombenanschlag. NSIDC-Forscher Ted Scambos erklärte, wenn das Eis sich noch weiter zurückziehe, drohe in naher Zukunft der Verlust des halben Wilkins-Schildes. Es umfasst noch gut 13 000 Quadratkilometer.

Eine Kettenreaktion löste diese dramatische Entwicklung aus. "Die Erderwärmung führt zu verstärktem Anschmelzen der Oberfläche. Das sommerliche Schmelzwasser dringt in Gletscher- und Schelfeisspalten ein und drückt diese auseinander, sodass die Eisstruktur schwächer wird. Nachdem die Eiskante, die bis dahin alles zusammengehalten hatte, weggebrochen war, zerbrach daher die nunmehr instabile Eisplatte", erläuterte Grosfeld. Die Temperaturen an der Westseite der Antarktis sind innerhalb von 50 Jahren um durchschnittlich 2,5 Grad Celsius angestiegen. Da der Sommer auf der Südhalbkugel nun endet, erwartet der Forscher in den kommenden Monaten keine Verschärfung der Entwicklung. Das sensible Ökosystem wird unter diesen Entwicklungen wohl nicht leiden. Prof. Ulrich Bathmann, Biologischer Ozeanograf am Alfred-Wegener-Institut: "Solange das Meereis nicht schmilzt, sind die Krillbestände, von denen sich beispielsweise Pinguine oder Wale ernähren, nicht in Gefahr. Und aus anderen Gebieten wie dem Rönne-Schelfeis wissen wir, dass nach dem Abbrechen von Schelfeis der Meeresboden sogar neu besiedelt wird."