Im Meer, Watt und an Land: Überall zeigen sich die Symptome der Erderwärmung.
Der Klimawandel hinterlässt bereits deutliche Spuren in der Tier- und Pflanzenwelt der Nordsee. Auch im norddeutschen Tiefland zeigen sich Symptome der Erderwärmung. Die Klimafolgen für die natürliche Artenvielfalt und die Frage, wie der Naturschutz darauf reagieren sollte, behandelte am Wochenende ein Symposium des Naturschutzbundes (Nabu).
"In der Nordsee erleben wir einen gravierenden Wechsel im Artenspektrum", berichtete Prof. Heinz-Dieter Franke von der Biologischen Anstalt Helgoland (BAH). Seit 1985 seien insgesamt 32 neue Arten aufgetreten, so Franke. 20 von ihnen seien südlicheren Gefilden zuzuordnen. "Wir werden eine wachsende Vielfalt in der Nordsee haben, weil die südlichen Arten die nördlichen nicht verdrängen." Ins mediale Rampenlicht rückten bereits Streifenbarbe und Mondfisch, aber es gebe viel dramatischere Änderungen.
Und die spielen sich speziell in den ersten beiden Gliedern der Nahrungskette ab: Nummer eins ist das Phytoplankton, mikroskopisch kleine pflanzliche Einzeller der Gruppen Kieselalgen und Flagellaten. Bei den Kieselalgen gibt es eine neue Art namens Coscinodiscus wailesii, die aber den winzigen Ruderfußkrebsen - wichtigster Bestandteil des Zooplanktons und damit Glied zwei der Nahrungskette - nicht schmeckt, weil sie zu groß ist. Obwohl die Algenproduktivität gut, sogar leicht erhöht ist, nimmt die Gesamtmasse (Biomasse) der Ruderfußkrebse deutlich ab. Das liegt auch daran, dass auch bei ihnen eine neue Art die Oberhand gewonnen hat, die deutlich kleiner ist als der bisherige Platzhirsch. Deshalb nahm die Masse der Ruderfußkrebse um etwa 70 Prozent ab, trotz gleich bleibender Individuenzahlen.
Die Veränderungen im Phyto- und Zooplankton trifft alle weiteren Nordseebewohner - von den pflanzenfressenden Schnecken, Würmern und Fischen bis hin zu den Robben, Walen, Seevögeln. "Die Nordsee wird weiter an Produktivität verlieren", sagte Franke. Mit Blick auf die Speisefische ergänzte er: "Heutige Nutzfische werden stark an Bedeutung verlieren, südliche Einwanderer werden den Verlust nicht ersetzen können." Zu den schwimmenden Klimaflüchtlingen gehörten der Kabeljau und die Scholle, die ihr Hauptverbreitungsgebiet weiter nördlich haben.
Schleichende, für Laien kaum wahrnehmbare Veränderungen gibt es auch im norddeutschen Wattenmeer. So breite sich das aus England stammende Gras Spartina anglica invasionsartig als Meeres-Vorposten der Salzwiesen aus und lässt, wo es wächst, kein Platz für die heimische Küstenflora. "Auf Sylt bedeckt es bereits zwei Drittel der Ostküste", so Prof. Karsten Reise von der Wattenmeerstation Sylt, wie die BAH Teil des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung. Reise: "Das Gras profitiert von milderen Temperaturen im Frühjahr."
Mehr Wärme begünstigt auch die eingeschleppten Arten Pantoffelschnecke und die Pazifische Auster. Beide lassen sich auf den heimischen Miesmuschelbänken nieder. Reise spricht vom "Schneckenpflaster", bei dem bis zu 1000 Tiere auf einem Quadratmeter eine dicke Deckschicht bilden. Und die Pazifische Auster wächst zu kleinen Monstern heran: 20 bis 30 Zentimeter große Exemplare überfordern Eiderente und Austernfischer, die bevorzugt Schalentiere knacken.
An Land, auch in Hamburg, lässt sich der Klimawandel vor allem in der Vogelwelt, aber auch an der Vegetation ablesen: "Die Apfelblüte begann im Zeitraum von 1961 bis 1990 um den 10. Mai herum. Heute fangen die Bäume zwischen dem 30. April und dem 5. Mai an zu blühen, also fünf bis zehn Tage früher", so Dr. Insa Meinke vom Norddeutschen Klimabüro am Forschungszentrum GKSS (Geesthacht). Generell habe sich in ganz Europa die Vegetationszeit um zehn Tage verlängert, so Meinke. In der Vogelwelt verändert die Erwärmung vor allem die Reisezeiten - Zugvögel kehren eher zurück, fliegen weniger weit oder versuchen gar, im Norden zu überwintern. Wer heute noch lange Strecken bis weit nach Afrika hinein zurücklegt, ist im Nachteil.
"Langstreckenzieher wie Gartenrotschwanz, Trauer- und Grauschnäpper haben zunehmend Probleme, weil die Insekten, die sie zur Aufzucht ihrer Jungen brauchen, früher auftreten. Oft ist deren Hochsaison bereits vorbei, wenn die Kleinen schlüpfen", erzählte Krzysztof Wesolowski vom Nabu Hamburg. So füttern Trauschnäpper nach einer niederländischen Studie ihren Nachwuchs hauptsächlich mit Raupen, die sich von frischem Eichenlaub ernähren. Doch wenn die Vögel aus dem Süden zurückkehren, ist das Eichenlaub hart, und die Raupen sind verschwunden.
Angesichts des Wandels muss der Naturschutz umdenken: nicht mehr versuchen, den Ist-Zustand zu bewahren, sondern Veränderungen zulassen. "Wir sollten Schutzgebiete nicht als Lebensräume einzelner Arten sehen, sondern als stressfreie Räume, in den wechselnde Arten sich eine Weile erholen können", sagte Prof. Pierre Ibisch von der Fachhochschule Eberswalde (Brandenburg). "Dabei gibt es vor allem zwei Probleme: die Unvorhersagbarkeit biologischer Reaktionen und die hohe Geschwindigkeit der Erwärmung. Während nach der letzten Eiszeit die Temperatur nur um ein Grad pro Jahrtausend stieg, sind wir heute bei einem Grad pro Jahrhundert. Und die Klimaforscher ermahnen uns, den Anstieg im 21. Jahrhundert auf zwei Grad zu begrenzen."