Moisburg. Dorf bei Hamburg will seine Alten nicht einfach ins Pflegeheim abschieben – und findet erstaunliche Lösung. Ein Ortsbesuch, der Mut macht.
- In vielen Regionen Deutschlands gleicht ein Platz im Pflegeheim inzwischen einem Sechser im Lotto
- Doch je weiter entfernt das Heim liegt, desto einsamer wird das Leben für den Menschen, der dort gepflegt wird
- Die Gemeinde Moisburg bei Hamburg möchte genau das verhindern und hat konkrete Vorstellungen, wie ein gemeinsames Altern möglich ist
Ein kleines Dorf bei Hamburg stellt sich einem großen gesellschaftlichen Problem: Die Gemeinde Moisburg will nicht länger akzeptieren, dass ältere Mitbürger den Ort im Pflegefall verlassen müssen und vereinsamen. Der Sound ist kämpferisch: „Wir dürfen alte Menschen nicht den Investoren überlassen“, lautete jüngst ein Satz bei einem Infoabend der Gemeinde zum Thema „Leben im Alter“. Und die Ansage ist klar: „In unserem Dorf soll niemand einsam alt werden.“
Barrierefrei wohnen, zur Not im Tiny House: Moisburg will seine Alten behalten
Gemeinsam statt einsam – so wollen die Moisburger das schaffen: Die Gemeinde hat einen Hof in der Ortsmitte gekauft, zu dem ein Wohnhaus, ein Stallgebäude und ein 5000 Quadratmeter großes Grundstück gehört. Die Immobilie soll ein Platz werden, an dem Menschen ihren Lebensabend verbringen können – und noch viel mehr.
„In den nächsten Jahren wollen wir alle zusammen ganz viel bewegen und das Dorf zu dem machen, was wir wollen“, sagte Ratsfrau Bettina Meyer, die den Infoabend gemeinsam mit Doreen Gerdes leitete. Beide sind sogenannte Ehrenamtslotsinnen und wollen ihre Mitbürger zur Beteiligung an dem Projekt motivieren. Die Immobilie ist da, das Vorhaben steht – jetzt soll es mit Ideen gefüllt werden.
Denn Wunsch und Wirklichkeit klaffen nicht nur in Moisburg weit auseinander. Ein eigenes Zuhause, in dem es sich auch im Alter möglichst unabhängig leben lässt, mit Familie und Freunden in der Nähe. Ohne Sorgen darum, wie die Ärztin zu erreichen ist, die Kiste Wasser in die Wohnung kommt oder der Kühlschrank wieder aufgefüllt wird. Ein Ort, an dem man sich geborgen fühlt und möglichst bis zum Lebensende bleiben kann – so stellt man sich das Alter ja idealerweise vor.
Pflegekrise trifft auch die Alten: Seniorenheime schließen oder sind unbezahlbar
Aber die Realität sieht anders aus: Unrentable oder insolvente Seniorenheime schließen reihenweise, ambulante Pflegeeinrichtungen geben auf – Deutschland steckt tief in der Pflegekrise. Wo neue, privatwirtschaftliche Angebote entstehen, wächst die Miete für altersgerechtes Wohnen weiter in die Höhe, ebenso der zu zahlende Eigenanteil in der stationären Pflege. Für immer mehr Menschen wird das Wohnen im Alter unbezahlbar, und in vielen Familien herrscht große Ratlosigkeit. Wohin mit Mama und Papa oder Oma und Opa, wenn sie nicht mehr allein zurechtkommen?
Nach Angaben des Instituts der Deutschen Wirtschaft fehlen in Deutschland rund zwei Millionen barrierefreie Wohnungen. Mit den geburtenstarken Jahrgängen der Babyboomer, die in den nächsten Jahren das Rentenalter erreichen, wird der Bedarf weiter steigen. Auf dem Dorf sind bedarfsgerechte beziehungsweise barrierefreie Angebote längst Mangelware. Denn der altersgerechte Umbau bestehender Wohneinheiten – oftmals handelt es sich dabei um etwas in die Jahre gekommene Einfamilienhäuser – ist teuer.
Vereinsamung droht schon bei drei Kilometern Entfernung
Viele ältere Menschen haben deshalb Angst, ihr Zuhause verlassen und in weit entfernte Pflegeeinrichtungen umsiedeln zu müssen, wenn sie hilfsbedürftig werden. Diese Angst soll ihnen in Moisburg genommen werden. Der Ort will auf dem jetzt erworbenen Areal des „Cassens Hoff“ vor allem bezahlbares Seniorenwohnen schaffen.
Die Ideen reichen von einer Sanierung des Hofes und einer Bebauung des idyllischen Grundstücks bei der Kirche mit ebenerdigen Tiny-Häusern bis hin zu einem Neubaukomplex mit Pflegeeinrichtungen und anderen Hilfsangeboten. Bisher müssen die alten Menschen ihr geliebtes Dorf verlassen, wenn sie niemanden zur Pflege haben. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass Vereinsamung bereits droht, wenn man nur drei Kilometer entfernt vom angestammten Wohnort untergebracht wird“, sagt Bettina Meyer.
Ein Leben lang geborgen in der Dorfgemeinschaft
Aus den Augen aus dem Sinn – das wollen die Moisburger nicht, die stolz sind auf den Zusammenhalt in ihrem Dorf an der Este. Sie wollen deshalb einen Ort schaffen, der den Verbleib in der Dorfgemeinschaft ein Leben lang ermöglicht. Voraussetzung dafür ist aber zunächst die Schaffung von barrierefreiem Wohnraum und seniorengerechten Strukturen.
Ehrenamtslotsin Doreen Gerdes zählt auf, was auf dem neu erworbenen Areal entstehen könnte: „Gemeinschaftsorientiertes oder betreutes Wohnen, Räume fürs Dorf, eine mobile ärztliche Versorgung oder andere Versorgungseinrichtungen, ein Café oder Restaurant mit Mittagstisch für Alt und Jung, Mehrzweckräume für Angebote wie Kochen, Basteln, Handwerken, ein Repair-Café oder eine Büchertauschbörse – vieles ist vorstellbar.“
Moderne Technik kann gegen die Isolation im Alter helfen
Ob man sich im Alter integriert oder isoliert fühle, hängt auch vom Erhalt der Kontaktmöglichkeiten ab, schildert Gerdes. So könnten altersgerechte Kommunikationssysteme die Folgen der abnehmenden Mobilität bei Senioren entschärfen.
Mittels einfach zu bedienender Tablets wäre das gesamte Dorf mit dem Seniorenquartier vernetzt. Die Bewohner würden auf diese Weise in die Lage versetzt, online Lebensmittel im Moisburger Tante-Enso-Dorfladen zu bestellen, die dann nach Hause geliefert werden.
Statt Pflegeheim ins Tiny House: „Schafft ihr das in 13 Jahren? Dann werde ich 100!“
In einem ersten Schritt soll nun im Rahmen einer Machbarkeitsstudie ein Fragebogen entwickelt werden, um genau zu erfahren, welche Angebote die Moisburger Bürger nutzen würden, wie sie im Alter wohnen möchten und ob sie die Gründung einer Sozialgenossenschaft unterstützen würden, die die Trägerschaft für ein Pflegeeinrichtung oder altersgerechte Wohnungen übernehmen könnte.
Außerdem werden weitere Ehrenamtliche gesucht, die bereit sind, sich für das Projekt zu engagieren. Und die Dorfgemeinschaft geht auf Reisen nach Vrees im Emsland und Ottenstein im Landkreis Holzmindern. Dort sind mit Hilfe des Planungsbüros StadtUmLand, das auch für die Gemeinde Moisburg eine entsprechende Machbarkeitsstudie erstellt, bereits moderne und ins Dorf integrierten Seniorenquartiere entstanden.
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Die Zeit drängt: Auch in der Samtgemeinde Hollenstedt, zu der Moisburg gehört, werden die über 65-Jährigen bis 2032 um 35 Prozent zunehmen. Für den 2000-Seelen-Ort Moisburg sind das etwa 180 Personen mehr als aktuell.
Bereits jetzt sind 124 Personen in der Gemeinde über 80 Jahre alt. Diese Zahl wird sich nach deren Berechnungen in den nächsten 20 Jahren wahrscheinlich verdoppeln. Es bleibt also wenig Zeit zum Aufbau einer eigenen zukunftsfähigen Struktur, um im Dorf gemeinsam alt werden zu können. „Schafft ihr das in 13 Jahren?“, fragte ein Teilnehmer beim Infoabend. „Dann werde ich 100 und möchte ins neue Quartier einziehen.“