Neu Wulmstorf. 22.000 Einwohner und kein einziger Pflegeplatz: Neu Wulmstorf hat die Pflegekrise. Doch es gibt Menschen, die an Lösungen arbeiten.

  • In der Region südlich der Elbe werden Pflegeplätze in Heimen aktuell zur Mangelware
  • Der Grund: Immer mehr Pflegeheime schließen, Pflegedienste geben auf
  • Betroffen sind vor allem die Landkreise Harburg und Stade

Peter Hauschild ist 74 Jahre alt. Noch ist er fit. Kein Grund zum Klagen. Neu Wulmstorfs stellvertretender Bürgermeister weiß aber auch, dass sich das schnell ändern kann. Häufig besucht er ehrenamtlich Senioren und Seniorinnen und hört sich ihre Sorgen an. „Bei diesen Gesprächen dreht es sich vor allem um ein Thema: den Pflegenotstand“, sagt Hauschild. „Die Leute fragen sich, was mit ihnen werden soll, wenn sie nicht mehr allein zurechtkommen.“

„Verlust der Pflegeheime in Neu Wulmstorf ist eine große Belastung“

Die Senioren in Neu Wulmstorf haben Angst. „Große Angst“, sagt Hauschild. „Und die habe ich auch.“ Der Ort mit mehr als 22.000 Einwohnern hat kein Pflegeheim mehr, das letzte wurde gerade geschlossen, das Vorletzte vor gut zwei Jahren. „Der Verlust der beiden Heime ist eine große Belastung für die Betroffenen und deren Familien“, sagt Hannelore Buls, Vorsitzende des Sozialausschusses der Gemeinde sowie des örtlichen Sozialverbands.

Peter Hauschild ist stellvertretender Bürgermeister in Neu Wulmstorf. Der 74-Jährige macht sich große Sorgen um die Situation der älteren Anwohner in der Gemeinde. 
Peter Hauschild ist stellvertretender Bürgermeister in Neu Wulmstorf. Der 74-Jährige macht sich große Sorgen um die Situation der älteren Anwohner in der Gemeinde.  © HA | Sabine Lepél

Die SPD-Frau und der CDU-Mann Peter Hauschild arbeiten in einer neugegründeten Arbeitsgruppe zusammen, die sich der Pflege-Misere im Ort angenommen hat.

Branche in der Krise: Pflegeeinrichtungen schließen derzeit reihenweise

Neu Wulmstorf steht mit der Pflege-Problematik nicht allein da. Im Landkreis Harburg sind mehrere Heime geschlossen worden, ebenso im benachbarten Landkreis Stade. Die Suche nach Alternativen ist somit noch schwieriger geworden. Auch Pflegedienste haben in der Region in den vergangenen Wochen reihenweise das Handtuch geworfen.

„Ich weiß, dass kleineren Orte von den Pflegediensten manchmal gar nicht mehr angefahren werden“, sagt Peter Hauschild. „Den Letzten beißen die Hunde.“ Die Betreuung von Pflegebedürftigen fällt deshalb häufig auf die Familie zurück. Sowohl Hauschild als auch Buls kennen einige solcher Fälle.

Sorge ist groß, ob man sich einen Pflegeplatz überhaupt leisten kann

Kaum jemand ist so gut vernetzt im Ort wie der ehemalige Polizist. Über 25 Jahre lang war er Ortsvorsteher in seinem Wohnort Elstorf und vertrat die Interessen des zu Neu Wulmstorf gehörenden Dorfes. Hauschild wird im Rat der Gemeinde als ruhige und ausgleichende Person über die Parteigrenzen hinweg geschätzt.

Sozialausschuss-Vorsitzende Hannelore Buls will die Pflegesituation in Neu Wulmstorf verbessern.
Sozialausschuss-Vorsitzende Hannelore Buls will die Pflegesituation in Neu Wulmstorf verbessern. © HA | Privat

Spricht er allerdings von den Sorgen der älteren Bevölkerung in der wachsenden Gemeinde vor den Toren Hamburgs, ist dem gestandenen Lokalpolitiker die Betroffenheit ins Gesicht geschrieben. „Die Unsicherheit bei den Älteren ist wirklich groß. Sie fühlen sich hilflos, weil sie die Situation nicht selbst beeinflussen können und weil sie sich fragen, was mit ihnen passiert, wenn sie Pflege benötigen, es in ihrem Heimatort aber keinen Heimplatz gibt“, sagt Hauschild.

Die Sorgen blieben auch bei dem Hinweis, dass in den kommenden Jahren neue Pflegeplätze geschaffen würden. „Dann fragen sich die Leute, ob sie diese neuen Pflegeplätze bei einem Eigenanteil von rund 3200 Euro überhaupt bezahlen können“, so Hauschild.

„Heute geht es in der Pflege nur noch um Rendite“, sagt der stellvertretende Bürgermeister

Er weiß, wovon er spricht. Hauschild hat seinen Vater bis zu dessen Tod jahrelang gepflegt. Der Lokalpolitiker würde deshalb lieber heute als morgen etwas zum Positiven für die Alten in seiner Heimatgemeinde verändern, doch er musste rasch erkennen, dass es enge Grenzen und Vorgaben gibt: „Es liegt rein rechtlich nicht in der Macht der Gemeinde. Und ein Pflegeheim in Eigenregie zu führen – das ist für uns leider utopisch“, sagt der Elstorfer.

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Es fehlten zum einen die finanziellen Mittel, zum anderen gemeindeeigene Flächen. „Heute geht es in der Pflege nur noch um Rendite. Das gesamte System um den Dienst am Menschen ist unterfinanziert“, sagt Hauschild. Die Pflegepolitik setze seit der Installation der Pflegeversicherung im Jahr 1995 vor allem auf privatwirtschaftliche Angebote, meint auch Hannelore Buls.

„Und nun ist mancherorts die Verwunderung groß, dass die unternehmerische Denk- und Handlungsweise nach 20 Nutzungsjahren dazu führt, dass Häuser nicht saniert wurden, weil die Gewinnerwartungen durch höhere Ausgaben nicht mehr erfüllt werden“, so die Diplom-Volkswirtin und Diplom-Sozialökonomin, die von 2012 bis 2016 Vorsitzende des Deutschen Frauenrats war.

Pflegenotstand mit Ansage: „Die Zeichen der Zeit wurden nicht erkannt“

Die Situation ist also komplex und die Abkehr von der Privatisierung der Pflege nicht einfach so möglich. Von rechtlichen Rahmenbedingungen einmal abgesehen – Gemeinden sind für die Pflege gar nicht zuständig – ist weit und breit kein gemeinnütziger Betreiber in Sicht, der in der Pflege aufs Geldverdienen verzichten wollte oder könnte.

Das Pflegeheim Haus an den Moorlanden muss nach Wasserschäden umfassend saniert werden. alle Bewohner mussten ausziehen.
Das Pflegeheim Haus an den Moorlanden muss nach Wasserschäden umfassend saniert werden. alle Bewohner mussten ausziehen. © HA | Sabine Lepél

Den Pflegebereich privatwirtschaftlichen Interessen zu überlassen, sei zu kurz gedacht gewesen, so Buls. „Die Last der Bereinigung liegt nun trotzdem bei den Kommunen, ohne dass sie die Mittel dazu übertragen bekommen haben. Dennoch muss die lokale Politik sich der Probleme jetzt annehmen.“ Der Neu Wulmstorfer Rat habe die richtigen Weichen für die Ansiedlung neuer Pflegeangebote gestellt, wie sie derzeit auf dem Kirchberg und in den Wulmstorfer Wiesen realisiert werden, meint Buls.

Torsten Möller, Leiter des Pflegedienstes Lebensbaum mit mehreren Standorten in der Region, sieht das etwas anders: „In Neu Wulmstorf wurde ein Gebäude nach dem anderen hochgeklotzt und zu wenig an die infrastrukturellen Folgen gedacht – auch bei der Pflege.“ Der Pflegedienstleiter beurteilt die Pflegesituation in der Gemeinde mit Blick auf die nicht vorhandenen Altenheime und Tagespflege-Einrichtungen als „miserabel“.

Die Gründe aus seiner Sicht: „Die Zeichen der Zeit wurden nicht erkannt beziehungsweise verschlafen. Sitzungen zur Tagespflege gab es bereits 2014. Aber in Neu Wulmstorf hatten Wohnungsbau und Großinvestoren Vorrang. Es wurde nur in Neubauten gedacht.“ Möller, der einen von zwei Pflegediensten im Ort betreibt und täglich nach eigenen Angaben knapp 1000 Menschen versorgt, plädiert für das Anmieten interessanter Objekte etwa für eine Tagespflege mit Hilfe und Unterstützung der Gemeinde. „So könnten Büroflächen schnell zu Tagespflege umgenutzt werden“, sagte Möller bei einer Stellungnahme im Sozialausschuss.

Pflegenotstand in Neu Wulmstorf: Lösungsansätze gibt es derzeit kaum

Die Anzahl der Pflegebedürftigen steigt, ebenso die Ausgaben für Pflegeleistungen, zugleich sind die Kapazitäten im Pflegebereich aufgrund fehlenden Fachpersonals nahezu erschöpft. Verlässliche Lösungsansätze gibt es derzeit kaum. Die parteiübergreifende Arbeitsgruppe um Buls und Hauschild will nun wenigstens Lobbyarbeit für die Senioren und Seniorinnen in Neu Wulmstorf leisten, ihnen eine Stimme geben und den Entscheidungsträgern im Rat Daten und Informationen zum Thema liefern.

Die beiden beschäftigen sich ehrenamtlich und privat intensiv mit der misslichen Situation im Ort. „Natürlich macht man sich als alter Mensch Sorgen, wenn man im Alter allein bleibt, die soziale Daseinsvorsorge diesen Bereich aber ausspart“, sagt Buls. Und Hauschild wünscht sich für sein Alter etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte: .„Dass ich nicht allein gelassen werden, dass es Menschen gibt, die auch einmal meine Hand halten und dass ich hoffentlich eine Pflegekraft habe, die etwas Zeit für mich hat.“