Bis 2035 gehen jedes Jahr bis zu 1,4 Millionen Menschen in Rente – für die Volkswirtschaft eine gefürchtete Entwicklung.
Demografie ist für viele Menschen ein Fachbegriff, der wenig mit ihrem Leben zu tun hat, irgendwo im Duden bei Demonstration und Demoskopie. Ein Fremdwort, das fremd klingt – und doch unser aller Leben seit Jahrzehnten nachhaltig prägt und die Zukunft entscheiden wird. Demografie ist eine Frage von Armut und Wohlstand, Reform und Revolution, Krieg und Frieden.
Daher nimmt es nicht Wunder, dass die Geburtenraten und -daten von zwei Organisationen genau erfasst werden. Zum einen von den Vereinten Nationen – zum anderen von der CIA. Wie heißt es beim US-Geheimdienst so schön: „Unsere Mission: Die Macht der Informationen nutzen, um unsere Nation zu schützen.“
Geburtenraten könnten Konflikte von morgen mitbestimmen
Denn aus den Zahlen lässt sich manches ableiten, sie erzählen vom Aufstieg und Fall der Nationen und verraten, welche Staaten Probleme bekommen: Es sind vor allem jene Gemeinwesen mit extremen Geburtenzahlen – sehr hohe und sehr niedrige –, die vor turbulenten Jahren stehen. Unter den wachstumsstärksten 15 Staaten mit Fertilitätsraten von mehr als 4,6 Kindern pro Frau finden sich fast ausschließlich afrikanische Staaten aus dem Sub-Sahara-Raum mit einer Ausnahme: Afghanistan.
Und am anderen Ende der Skala rangieren südostasiatische Staaten: Taiwan mit 1,08 Kindern pro Frau hat gerade einmal die Hälfte des Nachwuchses, der nötig wäre, um die Bevölkerung konstant zu halten. Ähnlich desaströse Zahlen weisen Südkorea (1,1), Singapur (1,16) und Hongkong (1,22) auf.
Es mag archaisch klingen – aber in einer unruhigen Weltregion könnten sie die Konflikte von morgen mitbestimmen. Die Verteidigung von Taiwan wird angesichts des Nachwuchsmangels nicht einfacher, die Aggressivität von China nicht kleiner. Erstmals seit der Kulturrevolution gehen auch im Reich der Mitte die Bevölkerungszahlen zurück – im vergangenen Jahr sank sie um 850.000 auf 1,411 Milliarden. Die Folgen der Ein-Kind-Politik sind nicht mehr zu übersehen: 9,56 Millionen Geburten stehen 10,41 Millionen Sterbefällen gegenüber. Und die Versuche der kommunistischen Regierung, die Geburtenrate wieder anzuheben, blieben bislang erfolglos.
Krieg hat Mythos der Demografieforschung widerlegt
Gerade hat der russische Angriffskrieg in der Ukraine einen Mythos der Demografieforschung widerlegt. Ursprünglich gingen die meisten Experten davon aus, dass alte Nationen weniger expansiv und kriegslüstern sind als jugendliche Staaten. Aber sowohl das Putin-Reich (1,6) als auch das Opfer der Aggression (1,53) liegen weit unter dem Weltschnitt von 2,42.
Europa wird zum Altersheim der Erde. Tote Hose herrscht in Südeuropa – Staaten wie Italien (1,22 Kinder pro Frau) oder Spanien (1,27) liegen deutlich unter dem nötigen Wert, um die Bevölkerung dauerhaft stabil zu halten. Inzwischen ist Deutschland mit einer Geburtenziffer von 1,57 wieder im unteren Mittelfeld angekommen. Das war einmal ganz anders: Der französische Historiker Jules Flammermont beklagte 1885, dass „Fruchtbarkeit ein permanentes Merkmal der deutschen Rasse“ sei und dass „das Wachstum der Bevölkerung Deutschlands ... ein paralleles Wachstum seiner Militärmacht sichert“. Damals war Frankreich demografisch weit hinter das Reich zurückgefallen.
Heute ist es anders – mit 2,03 Kindern pro Frau liegt Frankreich an Europas Spitze. Deutschland hingegen ist arm an Nachwuchs. Da der Geburtenrückgang früher als in anderen Staaten begann, ist die Zahl der Geburten pro 1000 Einwohner von 9,6 sehr niedrig. Denn die Mädchen, die vor 30 Jahren nicht geboren wurden, fehlen heute. Lange Zeit aber spielte die demografische Entwicklung in der Bundesrepublik keine Rolle.
Über Jahrzehnte wollte niemand den demografischen Wandel wahrnehmen
Zwar war das Problem spätestens seit den 70er-Jahren in der Öffentlichkeit bekannt, aber geburtensteigernde Maßnahmen erinnerten an die Politik der Nazis, an Mutterkreuz und dunkle Vergangenheit. Eine der zentralen Weichen in die falsche Richtung wurde zudem schon in den 50er-Jahren gestellt – der Wirtschaftstheoretiker Wilfried Schreiber entwarf damals für die Adenauer-Regierung das Modell einer Rente im Umlageverfahren. Er hatte nicht nur im Sinn, dass die Arbeitnehmer-Generation für die Rentner-Generation aufkommen sollte, er wollte einen echten Generationenvertrag und über eine dynamische Kindheits- und Jugendrente die Erziehungskosten gemeinsam tragen. Der damalige Kanzler Konrad Adenauer lehnte das Konzept mit einem Satz ab, der in die Geschichte einging: „Kinder kriegen die Leute immer.“
Tatsächlich sah es zunächst danach aus – bis zum Jahr 1964 stiegen in Deutschland die Geburtenzahlen. Vor 59 Jahren wurden hierzulande 1,36 Millionen Kinder geboren: die Baby-Boomer. Mit dem „Pillenknick“ und der Emanzipation der Frau sanken die Zahlen, ohne dass das Thema die Politik elektrisierte – weder Helmut Schmidt noch Helmut Kohl. Gerhard Schröder schaffte es mit seinem Satz vom Ministerium für „Familien und Gedöns“ in den Zitatenschatz – auch wenn er diese Formulierung später bereute.
Ursula von der Leyen nahm Mütter wie Väter in den Blick
Erst mit Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) und der Einführung des Elterngeldes begann sich etwas zu bewegen. Es war nicht die erste finanzielle Förderung für Familien, aber eine effektive, weil sie an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und den modernen Geschlechterrollen andockte – sie nahm Mütter wie Väter in den Blick. Tatsächlich stieg die Zahl der Geburten auch deshalb von ihrem historischen Tief im Jahr 2011 mit 661.000 Geburten im vergangenen Jahrzehnt wieder kontinuierlich an – auf knapp 800.000 im Jahr 2021.
Dazu hat auch die Migration beigetragen: Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit kamen 2021 auf eine Geburtenziffer von 1,49 Kindern, Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit hingegen auf 2,01 Kinder. Auffällig: Im zurückliegenden Jahr gab es einen Einbruch der Geburten, der auch auf Corona zurückzuführen ist: Deutschlandweit sank die Zahl bis August um sieben Prozent, in der Hansestadt sogar um mehr als acht Prozent auf 23.291 Geburten.
Die Gesellschaft altert: Baby-Boomer nähern sich der Rente
Diese nackten Zahlen verändern die Gesellschaft fundamental. Sie altert: Noch 1991 waren nur 15 Prozent der Bevölkerung Deutschlands 65 Jahre und älter, im Jahr 2020 lag ihr Anteil bereits bei 22 Prozent. Und die Geschwindigkeit nimmt zu, denn die Baby-Boomer nähern sich der Rente: Die Jahrgänge 1955 bis 1970 stellen heute einen Anteil von 29 Prozent an der Gesamtbevölkerung Deutschlands.
Bis 2035 gehen damit jedes Jahr zwischen eine Million und 1,4 Millionen Menschen in Rente – für viele Erwerbstätige ein ersehnter Wechsel, für die Volkswirtschaft eine gefürchtete Entwicklung. Zugleich speist eine erfreuliche Entwicklung den demografischen Wandel: Seit eineinhalb Jahrhunderten werden wir immer älter. Bei der Reichsgründung 1871 lag die Lebenserwartung bei knapp 40 Jahren, beim Ausbruch des ersten Weltkriegs 1914 hingegen schon bei 50.
Jungen, die 1945 zur Welt kamen, wurden im Schnitt rund 67 Jahre alt, Mädchen 75. Beim 1965er-Geburtsjahrgang ist die durchschnittliche Lebenserwartung auf 78,4 beziehungsweise 84 Jahre angestiegen. Erst Corona hat den Anstieg gestoppt und die Zahl um sechs Monate gesenkt. Trotzdem werden wir nicht nur älter, sondern erfreuen uns auch länger einer guten Gesundheit: Die Generation der Babyboomer kann bei Erreichen des Rentenalters noch mit vielen guten Jahren rechnen. Bei einem durchschnittlichen Eintrittsalter von zurzeit rund 64 Jahren haben Frauen noch über 21 Jahre, Männer 18 Jahre vor sich, davon über die Hälfte beschwerdefrei und fit.
2050 wird das Medianalter bei rund 47 Jahren liegen
Das wird nicht nur Arbeitsmärkte, sondern auch Rentensystem und Wirtschaft verändern: „Kein Bereich unseres Lebens wird davon unberührt bleiben“, sagt der Ökonom Thomas Straubhaar. Der Autor des Demografie-Sachbuchs „Der Untergang fällt aus“ rechnet vor, wie das Medianalter gestiegen ist – es teilt die Bevölkerung in zwei gleich große Teile: Die eine Hälfte ist jünger, die andere Hälfte älter als der Median. „1950 lag das Medianalter bei 35 Jahren, zur Jahrtausendwende bei 40 Jahren und 2050 wird es – je nach Zuwanderungsüberschuss, Geburtenhäufigkeit und Weiterentwicklung der Lebenserwartung – bei rund 47 Jahren liegen.
Innerhalb eines Jahrhunderts wird somit in Deutschland das Medianalter um zwölf Jahre angestiegen sein – ein historisch erstmaliger Vorgang“, sagt Straubhaar. „Das muss man sich erst klarmachen, was es bedeutet, wenn die Hälfte der Bevölkerung älter als 47-jährig sein wird – und eben nicht mehr 35-jährig, wie es Mitte des letzten Jahrhunderts der Fall war, als im Nachkriegsdeutschland mit der Sozialen Marktwirtschaft das Erfolgsmodell für eine junge, stark wachsende Bevölkerung geschaffen wurde.“
Ein Beispiel für die Folgen des demografischen Wandels sieht Straubhaar in der Reaktion auf die Pandemie: „Corona liefert ein wunderbares Beispiel dafür, wie alternde Gesellschaften auf große Herausforderungen reagieren. Man hat unbesehen des Schadens für Kinder und Jugendliche bei der Pandemiebekämpfung die Interessen der Älteren verfolgt“, sagt der 65-Jährige.
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„Um es in aller Brutalität auszudrücken: Man hat junge Menschen nach Hause verbannt, damit sie Ältere nicht anstecken konnten.“ Genauso wäre es möglich gewesen, besonders gefährdete Menschen, also vor allem Alte, zu isolieren und die weniger Gefährdeten, also Kinder und Jugendliche, in die Schulen zu schicken. „Aber bei einem Medianalter von 45 wird die Politik eher den Interessen der zahlenstärkeren Älteren als den Jungen folgen.“
Mit der Alterung werden sich unsere Städte radikal verändern
Fakt ist: Wenn wir älter werden, ändern sich die Anforderungen der Menschen und damit auch die Städte. Die viel zitierte 15-Minuten-Stadt, in der alles in einer Viertelstunde erreichbar wird, wird das Ziel moderner Stadtplaner. Zugleich wird sich der Wohnungsbau ändern – Grundrisse werden variabler, Mehr-Generationen-Wohngemeinschaften wichtiger, Immobilientauschbörsen relevanter. Auch das Gesundheitssystem steht vor neuen Herausforderungen, wenn mehr Hochbetagte im Land leben.
Zugleich zeigt der demografische Wandel, dass er kein Schicksal ist, sondern durchaus zu beeinflussen ist. Als Thomas Straubhaar sein Buch 2015 schrieb, erwarteten viele Experten einen Rückgang der Bevölkerung auf unter 80 Millionen bis zum Jahr 2030. Die Experten der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung kalkulierten 2009 eine Einwohnerzahl von 77 Millionen im Jahr 2030. „,Deutschlands Bevölkerung schrumpft’ war über Jahre die zentrale demografische Botschaft“, so Straubhaar. „Ich wollte das infrage stellen und darauf hinweisen, dass Deutschlands Zukunft von der Demografie nicht gefährdet wird.“ Wie sehr sich die Pessimisten irrten, zeigt die aktuelle Zahl: Heute leben 84,3 Millionen Menschen in Deutschland. Inzwischen spricht Bundeskanzler Olaf Scholz von einer plausiblen Rechnung des Statistischen Bundesamts, wonach die Bevölkerung „gegen 90 Millionen wächst“.
Das liegt an der Zuwanderung: „Man sollte sich einerseits klar dazu bekennen, ein Einwanderungsland zu sein, das offen ist für Zuwanderung“, sagt Straubhaar. „Aber genauso glasklar sollte man bleiben und die Zuwanderung strengen Regeln unterwerfen. An festen Quoten für Arbeitsmigration führt kein Weg vorbei. Einen vermeintlichen Fachkräftemangel durch Zuwanderung beheben zu wollen, hat noch nie funktioniert. Wieso versucht man es nun aber dennoch wieder?“