Der therapeutische Nutzen von Videospielen ist hoch. Sie halten nicht nur körperlich fit, sondern verzögern vielleicht Alzheimer.

Eine Gaming-Konsole im Seniorenstift? Ernsthaft? Diese Reaktion dürfte häufig die erste sein, wenn Besucherinnen und Besucher an der Gaming-Ecke im Hospital zum Heiligen Geist vorbeikommen, und auch Adalbert Pakura hat sie schon das eine oder andere Mal gehört, wenn er auf Messen, Konferenzen oder nun im Abendblatt-Podcast „Von Mensch zu Mensch“ über sein Herzensthema gesprochen hat. Pakura ist Geschäftsführer des Hamburger Unternehmens RetroBrain, das Videospiel-Konsolen für den ambulanten Pflegebereich herstellt: die MemoreBox.

Konsolen sind elektronische Geräte, die meist ausschließlich zum Ausführen von Videospielen gedacht sind. Das Phänomen ist nicht neu, 1977 kam die erste Videospiel-Konsole auf den Markt, und was damals als Beschäftigung einiger weniger Computerfans galt, ist heute zum digitalen Leitmedium geworden: Allein in Deutschland zocken regelmäßig 37 Millionen Menschen, Tendenz steigend.

Und doch ist die gesellschaftliche Wahrnehmung noch immer geprägt von Klischees. Gaming spaltet die Generationen: Videospiele, sagen Eltern, lassen die Kinder verblöden, machen einsam und aggressiv. Die Kinder oder Enkel entgegnen, dass Gaming in Norwegen bereits Schulfach ist – weil es bewusst dosiert schlau macht, im Grunde wie Schach ist, nur in drei statt zwei Dimensionen.

Gaming für Senioren – Motorradfahren oder kegeln

Um den therapeutischen Nutzen geht es dabei fast nie. Sollte es aber. Vor allem bei Senioren. Gaming, das ist inzwischen wissenschaftlich bewiesen, fördert nicht nur die körperliche Fitness und dient der Sturzprophylaxe – sondern fordert auch den Geist und könnte, wenn eine aktuelle Studie am UKE diese Annahme beweist, den Ausbruch der Alzheimer-Demenz zwar nicht verhindern, aber doch wenigstens verzögern. Es wäre ein Meilenstein im Kampf gegen diese heimtückische Krankheit, gegen die pharmakologisch nach wie vor kein Kraut gewachsen ist.

Kegeln geht mit der Spielkonsole auch im Rollstuhl.
Kegeln geht mit der Spielkonsole auch im Rollstuhl. © Hamburg | Podcast Von Mensch Zu Mensch

Im Fall der MemoreBox ist diese Konsole tatsächlich nicht größer als eine Brotdose. Im Hospital zum Heiligen Geist hängt sie an der Wand, direkt neben dem Großbildfernseher, auf den wiederum eine Kamera montiert ist. Sie überträgt die Bewegungen des Menschen, der vor dem Bildschirm steht, auf den Avatar im Videospiel.

Mal fährt der auf dem Motorrad über die Autobahn, mal wirft er eine Kugel auf die Kegelbahn, mal trägt er als Briefträger auf dem Fahrrad Briefe in einer virtuellen Stadt aus. Und im Grunde ist es auch egal, welches Spiel gerade auf der MemoreBox läuft: Die Seniorinnen und Senioren in den inzwischen mehr als 200 Pflege-Einrichtungen in Deutschland, die regelmäßig an der Konsole der Hamburger Firma spielen, sind begeistert – und von Anfang an offen für die neue, virtuelle Welt.

Menschen spielen von Natur aus gerne

Für Adalbert Pakura keine große Überraschung. „Wir von RetroBrain sind der Überzeugung, dass Menschen von Natur aus gerne spielen, dass das Spielen zum Menschsein dazugehört“, sagt er. „Von Seniorinnen und Senioren wissen wir, dass es in der stationären Pflege oft nicht spaßig ist, dass wenig gefördert wird, dass im Grunde nur verwaltet wird, was aktuell vorhanden ist.“

Adalbert Pakura ist Managing Director bei Retrobrain.
Adalbert Pakura ist Managing Director bei Retrobrain. © RetroBrain R&D | RetroBrain R&D

Spaß am Spiel als Menschenrecht – das ist ein neuer Blick auf das Thema Videospiele. Und ein sehr inklusiver. Tatsächlich braucht es nicht viel, um mit oder an der MemoreBox trainieren zu können, selbst Menschen im Rollstuhl können an der virtuellen Kegelrunde teilnehmen.

Die einzige Besonderheit: Während mit den eigenen Körperbewegungen der Avatar durch das Spiel gesteuert wird, müssen sich die Senioren gleichzeitig kleine Details wie zum Beispiel eine Fahrstrecke merken – und das Gemerkte während der sportlichen Betätigung wieder abrufen. Es ist diese Mischung aus körperlicher und geistiger Tätigkeit, die am Ende den therapeutischen Nutzen ausmacht.

Die Erinnerungsleistung, die Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit verbessern sich, auch der Gleichgewichtssinn wird trainiert. Nicht zu vergessen: der Spaß. Die Gaming-Ecken in den Seniorenheimen sind beliebt, hier treffen sich Heimbewohner aller Altersstufen, feuern sich gegenseitig an, lachen – und spielen.

Auch ältere Menschen können an Hirnvolumen zulegen

Haben wir die therapeutische Kraft der Videospiele viel zu lange unterschätzt? „Ich glaube ja“, sagt Adalbert Pakura. „Weil das Medium neu ist, wurde es lange Zeit als Gedaddel abgetan, als Zeitverschwendung. Aber schon länger weiß man, dass die positiven Effekte auf das Gehirn signifikant sind.“ Mit Spannung wird auch bei RetroBrain auf das Ergebnis einer aktuellen Studie am UKE gewartet.

Denn dort hatten Forscher schon vor einigen Jahren herausgefunden, dass häufiges Spielen von Videospielen zu einem vergrößerten Hirnvolumen in einem bestimmten Bereich führt – nämlich ausgerechnet dem Bereich, der von der Alzheimer-Demenz besonders angegriffen wird. Das Ergebnis: Nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch bei Menschen über 70 Jahren vergrößerte sich das Hirnvolumen. Allerdings: Keiner der teilnehmenden Seniorinnen und Senioren litt zum Zeitpunkt der Studie an irgendeiner Form von Demenz.

Mehr Pflegestationen sollen die MemoreBox erhalten

Nun sind die Wissenschaftler am UKE einen Schritt weitergegangen. Sie fragten sich: Könnte man unter Umständen mit dem Trainieren von Videospielen, mit dem täglichen Konsum digitaler Medien dem Demenz-Prozess entgegentreten? In der aktuellen Studie sind die teilnehmenden Senioren nun an einer Vorstufe der Alzheimer-Demenz erkrankt – und spielen am Tag 30 Minuten ein von der Firma RetroBrain eigens für diesen Zweck programmiertes Spiel.

In der Zwischenzeit arbeitet RetroBrain weiter daran, immer mehr Pflegestationen in Deutschland mit der MemoreBox auszustatten. Die Nachfrage wächst, vor allem in Zeiten der Pandemie, in der viele Einrichtungen schließen mussten und die Bewohner keinen Besuch mehr empfangen konnten. Ein virtueller Kegelclub ist für solche Fälle sicher nicht die schlechteste Idee.