Zernien. Neuartiges Pflegekonzept soll auf dem Land bei Lüneburg entstehen – und Demenz-Erkrankten ein Altern in Würde ermöglichen.

Als seine Mutter die Treppe hinunterstürzte und eine Nachbarin ihr Wimmern erst nach zwölf Stunden hörte, war für Holger Hasse klar: Zu Hause leben kann sie nicht mehr. Ihre Demenz hatte es ohnehin schon schwierig genug gemacht die Jahre zuvor. Da ein Pflegeheim für ihn nicht in Frage kam, suchte er nach Alternativen. Und traf auf so viele gute Ideen und engagierte Menschen, dass er mit drei anderen jetzt selbst eine neue Wohnform für Menschen mit Demenz baut: einen Bauernhof mit Pflegedienst, knapp 50 Kilometer südöstlich von Lüneburg.

Vier Menschen sind es, die das Modellprojekt gemeinsam auf die Beine stellen: Jan Adams (28) mit Masterabschluss in Unternehmertum und Innovation, seine Partnerin Katharina Rosteius (28) mit Masterabschluss in Gesundheitsökonomie sowie Oliver Czaia (54), freier Architekt. Vierter im Bunde ist Holger Hasse (57), Gründer der Lüneburger Firma Eurolaser GmbH und heute mit eigenem Ingenieurbüro.

Green Care Farms: Das Vorbild kommt aus den Niederlanden

Katharina Rosteius forscht in den Niederlanden zur Versorgung von Menschen mit Demenz auf so genannten Green Care Farms. Das sind Pflegehöfe mit bauernhofähnlichem Charakter. „Wir haben viele solcher Projekte in den Niederlanden besucht“, erzählt Jan Adams. „Uns hat die Idee nicht mehr losgelassen.“ Als Masterarbeit für den Abschluss seines Studiums fertigte er daher kurzerhand einen Businessplan für einen solchen Hof in Deutschland an.

Deutschlandkarte HA Grafik, HA Infografik
Deutschlandkarte HA Grafik, HA Infografik © HA Grafik, HA Infografik, F. Hasse | Frank Hasse

Mit einer Förderung des Landes Nordrhein-Westfalen konnte die beiden bereits eine Infotour durch ganz Deutschland machen und das Konzept vorstellen – und lernten dabei Holger Hasse und Oliver Czaia kennen. Alle vier bewegt dieselbe Frage: Wie können Menschen mit Demenz einen möglichst selbstbestimmten Lebensabend in Würde verbringen?

Menschen mit Demenz finden hier eine ideale Umgebung

Die Antwort auf ihre Frage gibt es in den Niederlanden schon mehr als 600-mal, und es gibt sie in den Köpfen der vier von der Initiative Pflegehof. Die Antwort ist ein Gelände, das angelegt ist wie ein Bauernhof. Mit verstreuten Gebäuden, kleiner Pferdekoppel, Obst- und Nutzgarten, Schweine- und Hühnerstall und dazwischen ebene Wege.

Alles so angelegt, dass es für Menschen mit Demenz eine ideale Umgebung bietet: Die Zäune um die Tiergehege dienen gleichzeitig als Schutz vor den Weglauf- respektive Hinlauf-Tendenzen, wirken aber nicht so. Die Wege sind in Kreisen angelegt und führen allesamt zurück an ihren Ursprung, damit sich niemand verirrt. Wer kann und will, hilft bei der Pflege der Nutzpflanzen und Tiere, schält Kartoffeln in der Küche oder legt die eigene Wäsche so lange noch selbst zusammen, wie es eben geht.

Für die 24-Stunden-Pflege sorgt ein ambulanter Pflegedienst

„Es gibt Aufgaben, und es gibt keine Überpflegung“, sagt Holger Hasse. „Die oftmals starren Regelungen der Heimgesetze gelten nicht. Die Menschen behalten das Hausrecht – und ihre Würde.“ Auch Haustiere dürfen mitgebracht werden.

Die offizielle Bezeichnung für so ein Konzept lautet „selbstverantwortete ambulant betreute Wohngemeinschaft“, die das Bundesministerium für Gesundheit im sogenannten Freiburger Modell 2006 entwickelt hat. Für die 24-Stunden-Pflege sorgt ein ambulanter Pflegedienst.

Angehörigenrat, Vermieter und Pflegekräfte tauschen sich regelmäßig aus

Hasse weiß, wie belastet Angehörige mit der Pflege von Menschen mit Demenz sind und ist überzeugt, dass die Hürde, einen geliebten Menschen in eine solche Wohngemeinschaft zu geben, weit niedriger liegt als es bei einem konventionellen Pflegeheim der Fall wäre. „Die Bewohnerinnen und Bewohner sind weniger aggressiv, außerdem ist der Kontakt unter den Angehörigen viel enger. Das ist sehr wertvoll.“ So gibt es drei Stimmen, die sich im Pflegehof zu strategischen Fragen und bei Schwierigkeiten austauschen: Angehörigenrat, Vermieter und Pflegekräfte.

Zernien liegt im Wendland: 2000 Menschen wohnen verstreut auf 17 Ortsteile.
Zernien liegt im Wendland: 2000 Menschen wohnen verstreut auf 17 Ortsteile. © HA | Carolin George

Der Pflegehof soll als Genossenschaft agieren, zurzeit läuft die Gründungsphase. „Wir suchen noch Menschen, die die Genossenschaft finanziell unterstützen, denn für die notwendigen Investitionen haben wir noch nicht ausreichend Kapital zusammen“, sagt Jan Adams. „Dabei suchen wir nicht nur nach größeren Investitionssummen. Jeder kann mitmachen.“

Läuft alles ideal, könnten die Bauarbeiten Anfang 2024 beginnen

Derzeit holt die Gruppe Angebote der verschiedenen Gewerke ein, um die Kosten möglichst präzise kalkulieren zu können. Sie werden im höheren einstelligen Millionenbereich liegen. Das Grundstück in Zernien ist bereits reserviert, mit dem Abschluss des Änderungsverfahrens im Bebauungsplan rechnet die Initiative für Ende dieses Jahres. Läuft alles ideal, könnten die Bauarbeiten Anfang 2024 beginnen.

Herumgesprochen hat sich das Vorhaben bereits, und offensichtlich ist es nicht nur für Menschen interessant, die Demenzkranke in ihrer Familie haben. Sondern auch für Pflegekräfte. „Wir haben bereits Anfragen von beiden Seiten“, sagt Hasse. In den Niederlanden gibt es sogar schon Wartelisten für die Farmen – es sind Initiativbewerbungen von Pflegekräften.

Das Konzept ist modular und überall replizierbar

Läuft ihr Modellprojekt, würde die Gruppe ihr Konzept am liebsten in ganz Deutschland sehen. Allerdings nicht als teuer bezahltes Franchise-Unternehmen, sondern gemeinwohlorientiert. „Wir sehen uns eher als eine Art Open Source“, sagt Jan Adams. „Unser Konzept ist modular und überall replizierbar. Wir sind sicher: In 20 Jahren wissen alle, wie es besser gehen kann.“

Die Gruppe hätte sich auch gut vorstellen können, ihr Modellprojekt in Lüneburg umzusetzen, aber es fand sich kein entsprechender Bauplatz. Nun also Zernien, knapp 50 Kilometer südöstlich. 2000 Einwohner in 17 Ortsteilen, inklusive Tankstelle und Gewerbe, Wochenmarkt und Festsaal, Supermarkt mit Post, Bäckerei mit Café, Grundschule und Kita. Das bereits bestehende Seniorenzentrum heißt „Lebenswärme“, es gibt einen ehrenamtlichen Bürger-Fahrservice. „Die Menschen in Zernien sind genau die Richtigen für unseren Pflegehof.“ Holger Hasse muss es wissen. Er lebt schließlich seit 2010 selbst hier.

Weitere Informationen über das Modellprojekt: www.initiative-pflegehof.de