Er galt als der zweite Mozart. Doch die Nazis vertrieben ihn aus dem Klassik-Olymp. Dabei hat er der Musik mehr gegeben als viele andere.

Hamburg. Für den Kollegen Robert Schumann war er nichts weniger als "der Mozart des 19. Jahrhunderts" - andere Stimmen werfen ihm dagegen Glätte vor oder sehen ihn gar als "Erfinder des religiösen Kitschs in der Musik", wie es der renommierte Musikforscher Charles Rosen 1995 formulierte. Diese gegensätzlichen Äußerungen machen deutlich, wie weit die Meinungen über Felix Mendelssohn Bartholdy noch immer auseinanderklaffen. Auch heute, im Jahr des 200. Geburtstags, ist sein Rang als Komponist keinesfalls unumstritten - und ein Großteil seines Schaffens nur wenig bekannt.

Die Gründe für unser eingeschränktes Bild von ihm sind vielfältig und wesentlich den Nachwirkungen des Aufführungsverbots während der Nazi-Zeit geschuldet, haben aber auch mit einem romantischen Komponisten-Klischee zu tun. Christoph Schoener, Kirchenmusikdirektor am Michel, und seit Langem ein Mendelssohn-Verfechter, bringt die Vorbehalte von der angeblich mangelnden "Tiefe" auf den Punkt: "In Deutschland erwartet man, der Künstler müsse um sein Schaffen ringen. Man sieht Beethoven-Porträts mit wilder Mähne und seine Skizzenblätter vor sich - und Mendelssohn passt so gar nicht in diese Erwartung: Er war einfach perfekt, bei ihm ist alles im Lot."

In der Tat schrieb der Komponist schon im 19. Jahrhundert Werke, die so zeitlos sind, dass sie hervorragend in die Hitparaden der Gegenwart passen würden: Sein beliebtes Chorstück "Denn er hat seinen Engeln" verfügt nicht nur über eine traumhaft eingängige Melodie, sondern mit einer Länge von 3'30 auch ziemlich genau über die Passform für heutige Radio-Formate: So modern ist Mendelssohn. Der mitunter geradezu beängstigenden Perfektion seiner Kunst entspricht eine atemberaubende Laufbahn, die mehr als glatt verlief: Als Sohn einer wohlhabenden, gebildeten Bankiersfamilie und als Enkel des Gelehrten Moses Mendelssohn, der Vorbild für die Titelfigur in Lessings "Nathan der Weise" war, wurde Felix am 3. Februar 1809 in der Großen Michaelisstraße in Hamburg in ein kulturinteressiertes Umfeld hineingeboren. Seine jüdischen Eltern, die später selbst konvertierten, ließen ihre Kinder nach dem baldigen Umzug in Berlin protestantisch taufen und engagierten die bestmöglichen Privatlehrer. Schon früh zeigten Felix und die ältere Schwester Fanny dabei ihre außergewöhnliche, breit gefächerte Begabung, insbesondere auf dem Gebiet der Musik.

Sein Lehrer Carl Friedrich Zelter bescherte dem Jungen 1821 eine Einladung nach Weimar, zum großen Goethe. Am 6. November schrieb Felix: "Jeden Morgen erhalte ich vom Autor des Faust und des Werther einen Kuß, und jeden Nachmittag vom Vater und Freund Göthe zwei Küsse. Bedenkt!" Der hochverehrte "Vater und Freund", der viele Jahre zuvor schon Mozart erlebt hatte, ließ den charmanten Felix auswendig Stücke vortragen und improvisieren und befand beim Genie-Vergleich: Mendelssohns frühreife Leistungen verhielten sich zu Mozart "... wie die ausgebildete Sprache eines Erwachsenen zu dem Lallen eines Kindes". Damit war die Wunderkind-Parallele zu Mozart höchstdichterlich abgesegnet: Deutschland hatte seinen Superstar. Und Felix sollte die Erwartungen nicht enttäuschen: Zwischen dem elften und 14. Lebensjahr - als sein Vater den "christlichen" Namen Bartholdy annahm - schrieb er rund 100 Werke, darunter die Streichersinfonien. Er vollendete mit 16 das wunderbare Streichoktett und kurz darauf die "Sommernachtstraum"-Musik.

Neben dem kompositorischen Output erwies sich Mendelssohn unter anderem auch als begabter Zeichner, Altphilologe und Briefeschreiber auf hohem literarischen Niveau und war nicht zuletzt ein international gefragter Pianist, Organist und Dirigent von musikhistorischer Bedeutung: Seine Aufführung der Matthäus-Passion (1829) sorgte erst für die Wiederentdeckung jenes damals völlig überholten Komponisten namens Johann Sebastian Bach. Mit 26 Jahren wurde er zum Direktor der Gewandhauskonzerte in Leipzig ernannt, wo er heiratete und unter anderem Meisterwerke wie sein Violinkonzert schrieb. Am 4.11.1847 starb er, im Alter von nur 38 Jahren, infolge eines Schlaganfalls - ein halbes Jahr nach der geliebten Schwester Fanny, die trotz ähnlicher Begabungen und vieler bedeutender Werke keine vergleichbare Karriere machen durfte.

So sehr Felix Mendelssohn zu Lebzeiten verehrt wurde, so stark schlug das Pendel schon bald in die Gegenrichtung aus: In seinem Pamphlet "Das Judenthum in der Musik" von 1850 sprach Richard Wagner Mendelssohn jede "wahre Leidenschaft" und die Fähigkeit ab, "... auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten". Damit ebnete Wagner nicht nur den Vorurteilen von der mangelnden "Tiefe", sondern auch der NS-Kulturvernichtungsmaschine den Weg, die später versuchte, Mendelssohn von der Bildfläche zu tilgen: Nicht genug damit, dass seine Werke verboten und eine "arische" Sommernachtstraummusik bestellt wurden - an der sich unter anderem Carl Orff versucht hat -, nein, auch die Mendelssohn-Denkmäler mussten verschwinden. Wie in Hamburg, wo die Büste vor der Kleinen Laeiszhalle durch ein Händel-Porträt ersetzt wurde. Heute steht im Brahms-Foyer jedoch eine neue.

Die langjährige Lücke in der Mendelssohn-Aufführung hat, verbunden mit dem Vorurteilsgemisch, für ein schiefes, unvollständiges Bild gesorgt: Die erste ausführliche Biografie stammt von 1963, und abgesehen von Hits wie dem Violinkonzert oder der "Italienischen" Sinfonie sind viele Werke sträflich vernachlässigt. Noch immer ist sein Schaffen gar nicht vollständig erschlossen: Der amerikanische Dirigent Stephen Somary etwa hat nach jahrelanger Recherche in ganz Europa rund 270 (vom Komponisten unveröffentlichte) Partituren ausgegraben und einige der Werke am 28. Januar in New York uraufführen lassen; eine Woche zuvor erklang am Leipziger Gewandhaus eine vervollständigte Fassung seines dritten Klavierkonzerts, dessen Fragment erst vor 25 Jahren aufgetaucht ist. Und der Hamburger Pianist Sebastian Knauer interpretiert auf seiner aktuellen CD "Pure Mendelssohn" unter anderem die Ersteinspielung eines vom Musikwissenschaftler Larry Todd komplettierten Liedes. Knauers CD zeigt außerdem deutlich, dass es auch in den längst edierten Stücken noch viele bisher wenig bekannte Ausdrucksdimensionen Mendelssohns zu entdecken gibt: Schon in den kleinen, vermeintlich harmlosen Klavierstücken steckt viel mehr Leidenschaft, als man gemeinhin annimmt.

So wie hier verbirgt seine Musik unter der geschmeidigen, freundlichen Oberfläche sehr wohl jene emotionalen Tiefenschichten und herzergreifenden Gefühle, die ihm nicht nur Richard Wagner und die antisemitischen Hetzer der NS-Zeit absprechen wollten. Für Christoph Schoener etwa haben Mendelssohns Werke oft "ein großes Feuer, das sich ja schon in Vortragsbezeichnungen wie ,con fuoco', also ,mit Feuer' ankündigt: Da setzt er unglaubliche Adrenalinschübe frei - zum Beispiel in den selten gespielten Orgelwerken." In der geistlichen Vokalmusik - ein großer und ganz wichtiger Teil seines Schaffens - offenbart der Komponist, der keine bedeutende Oper geschrieben hat, ein riesiges dramatisches Potenzial. Und zwar nicht nur in den Oratorien wie dem "Elias", sondern auch mit seinen herrlichen Motetten wie "Warum toben die Heiden", in der er eine packend plastische Textausdeutung mit Klängen von betörender Schönheit vereint. Geradezu schockierend wirkt schließlich die Ausdrucksintensität seines Streichquartetts op. 80 in der düsteren Tonart f-Moll: Unter dem unmittelbaren Eindruck von Fannys Tod schrieb er hier 1847 ein schmerzlich-schroffes Meisterwerk, das dem Klischee vom stets heiter gestimmten Klassizisten krass zuwiderläuft.

Das Jahr bietet nun in Hamburg - und natürlich in den Mendelssohn-Städten Leipzig und Berlin - mit zahlreichen Konzerten die Möglichkeit, das unterschätzte Genie neu oder wieder zu entdecken. Im Vergleich mit dem riesigen Jubiläumsspektakel von 2006 nimmt sich das alles allerdings eher bescheiden aus: Bis Mendelssohn wieder auf Augenhöhe mit Mozart gesehen wird, dauert es wohl noch ein bisschen.