Hamburg. Das TV- und Streaming-Programm des Jahres auf den Punkt gebracht: Im Abendblatt-Ranking sind viele internationale Produktionen. Und deutsche?
Serien wegsuchten statt rausgehen ins reiche Kulturleben mit Konzerten, Ausstellungen, Aufführungen: Wir bekennen uns schuldig. Aber welche waren denn nun die besten Bildschirmerzählungen des Jahres? Da haben wir mal überlegt. Lesen Sie hier die Top Ten des Hamburger Abendblatts.
Platz 10: „Baby Reindeer“, Netflix – die Freak-Show des Jahres
Übel, wie die dem nachgestiegen ist, der arme Kerl, und das soll wirklich passiert sein? So ging das Gespräch über „Reindeer Baby“ („Rentierbaby“), den Netflix-Beitrag zum Thema Stalking. Für die einen war die Miniserie von Standup-Comedian Richard Gadd die Freak-Show des Jahres, für die anderen eine hinter der Komik auch bedrückende Studie über Einsamkeit. Außerdem der erschütternde Blick ins Entertainment-Business: Wie sein Schöpfer Gadd wurde die Hauptfigur der Serie Opfer sexuellen Missbrauchs. Die Entertainmentbranche ist gnadenlos. Publicity bekam „Reindeer Baby“ nicht zu knapp, samt Schadenersatzklage einer Frau, die sich in der Stalkerin Martha wiedererkannte.
Platz 9: „The Penguin“, Sky – Colin Farrell als watschelnder Gangsterboss
Der Wow-Effekt des Serienjahres: DAS soll Colin Farrell sein?! Im „Batman“-Spin-off „The Penguin” spielt der massiv maskierte Hollywood-Star (der 2024 auch in der Apple-Serie „Sugar“ zu sehen war) einen körperlich verunstalteten Möchtegern-Mob in Gotham City, der sich knallhart und traumatisiert seinen Weg an die Spitze erkämpft. Hier ist die Adaption besser als die Comicvorlage – und „The Penguin“ der ultimative Tipp für alle, die nie aus ihrem Kinderzimmer herausgekommen sind. „Batman“-Poster rauskramen, alles zutapezieren!
Platz 8: „Industry“, Sky – die jungen Leute und das viele Geld
Koksen, saufen, Pardon: arschlochmäßig unterwegs sein, immer mit dem eigenen Vorteil im Auge: Die britisch-amerikanische Investmentbanker-Serie „Industry“ ging 2024 in die dritte Staffel. Wir nahmen zwei Erkenntnisse mit: Die jungen Leute, und auch die nicht mehr so jungen, sind kaputter denn je. Überehrgeiz, unendliche Gier, Vaterkomplexe, vom Kapitalismus demolierte Gestalten auf der Borderline, es wird wieder einiges geboten. Und zweitens: Wenn es ums Traden ging, verstanden wir wieder gar nix. Egal.
Platz 7: „Ripley“, Netflix – der Killer als Sehvergnügen
Gottlob konnte man vor „Industry“ theoretisch das Serien-Remake von „Der talentierte Mr. Ripley“ bringen. Man ging in diesem Fall also ausgeruht in die Hektik-Veranstaltung „Industry“, wenn man vorher „Ripley“ geschaut hatte. Neo-Noir in Schwarz-Weiß, italienische Küstenortgassen, Andrew Scott als killender Betrüger, was für ein hochästhetisches, sich in aller visueller und narrativer Gediegenheit entfaltendes Sehvergnügen. Die Wiedergeburt von Netflix als Angebot für Rotwein-Connaisseure von der literaturwissenschaftlichen Fakultät.
Platz 6: „True Detective“, Sky – Jodie Foster eiskalt in Alaska
Alaska ist eisig und dunkel, insbesondere die Ureinwohner werden von ihren Dämonen heimgesucht. Dann ist eine Forschergruppe tot. Die rüde Polizistin Liz Denvers ermittelt in einer frauenfeindlichen Umgebung, und auch dank Jodie Foster, die die Hauptrolle spielt, ist „True Detective“ nun richtig zurück. „Night Country“ heißt diese vierte Staffel der glorreich gestarteten und mau fortgeführten Cop-Reihe. Amerikanische Serien-Exzellenz, klirrend kalt und suggestiv. Für unerschrockene Sinnsucher bestens geeignet: Gott ist nie toter als bei „True Detective“.
Platz 5: „Shogun“, Disney+ – Preisregen für das japanische „Game of Thrones“
Der Abräumer bei den Emmys in diesem Jahr – „Shogun“ (genau, Roman, Kinofilm, das ist ein sehr bekannter Stoff) ist, was Auszeichnungen angeht, eine der erfolgreichsten Serien aller Zeiten. Die amerikanische Produktion mit beinah ausschließlich japanischen Darstellern ist ein „Game of Thrones“ in Fernost mit Intrigen und Gewalt, in dessen Zentrum unversehens ein englischer Seefahrer steht. Visuell überwältigend, thrilling – man brauchte japanischen Grüntee, um all das Gemetzel mental zu bewältigen.
Platz 4: „The Day of the Jackal“, Sky – Identifikation mit einem Auftragsmörder
Der Thriller des Jahres wiederum ist eine weitere Romanadaption: Frederick Forsyths „The Day of the Jackal“ in der cool inszenierten englischen Serien-Adaption mit Oscar-Preisträger Eddie Redmayne. Man hofft immer, dass der von ihm verkörperte Auftragsmörder mit seinen Präzisionsknarren trifft. Der Killer als Identifikationsfigur, seltsam genug. Muss man im Auge behalten, diese Neigung?
Platz 3: „Kafka“, ARD – grotesk, eine deutschsprachige Serie auf dem Treppchen!
Auch Deutsche und Österreicher können serielles Fernsehen, unglaublich, aber wahr. Mit dem Mysterythriller „Oderbruch“ hatte die ARD bereits zu Jahresstart einen Bringer im Angebot. Dann schickte der Sender im Jubiläumsjahr – grotesk, grotesk – einen unter anderem von Daniel Kehlmann geschriebenen Sechsteiler über den größten deutschsprachigen Schriftsteller ins Rennen. „Kafka“ ist intelligent und witzig, wirklich ein richtig schönes Ding. Für alle, die sich endlich mal wieder wie verwandelt sehen wollen.
Platz 2: „Pachinko“, Apple TV+ – Kino-Opulenz fürs Sofa
Das besetzte Land und die Kolonialisten, ein Heimwehschmerz, der nie vergeht, und die gesplittete Identität zwischen Japan, Korea und den USA: „Pachinko“ erzählt bildstark von einer Familie und ihrem Weg durch blutige Jahrzehnte, die in eine komplizierte Gegenwart münden. Ein Leinwand-Epos für Cineasten, die zu faul sind, ins Kino zu gehen, opulent erzählt und perfekt inszeniert.
Platz 1: „The Bear“, Disney+ – dieser Lebenshunger in der Küche
„The Bear“, die Serie, an der man sich gar nicht sattsehen kann – so schrieben wir im Spätsommer anlässlich des Starts der dritten Staffel. Unser liebster Küchen-Thriller mit Sternekoch Carmy (Jeremy Allen White), der die Ambition über alles stellt, bot in den neuen Folgen zwar insgesamt vor allem mehr vom längst Etablierten. Aber wenn das nun mal so gut ist? Die Serie „The Bear“ ist eine Hommage an die Perfektion, die Hingabe, die Haute Cuisine. Für Lebenshungrige, die auch auf dem Sofa mit großem Besteck das Glück feiern, Mensch unter Menschen zu sein.